Editorial

Mach dich frei von der falschen Vorstellung, dass du frei bist.

Wir sehen die Dinge nicht wie sie sind, wir sehen sie, wie wir sind.
Anais Nin

Die meisten von uns glauben zwar nicht mehr, dass die Erde der Mittelpunkt der Welt und eine Scheibe ist, um die die Sonne kreist, aber anderen viel wichtigeren Illusionen über uns selbst sind wir immer noch erlegen. Zum Beispiel der Illusion, dass wir wach, bewusst und frei sind, in der Lage zu tun, was wir wollen, dass wir Entscheidungen treffen und an ihnen festhalten könnten, dass wir eine einzige, permanente Person seien, die wir „Ich“ nennen, und positiven Willen hätten. Solange wir aber im Aberglauben verhaftet sind freizusein und unser Gefängnis nicht sehen, kommen wir nicht frei, denn wozu an Fähigkeiten arbeiten, die man schon zu besitzen glaubt? Wohl dem, der sich wie Sam im folgenden Limerick keine Illusionen über seine Lage macht, sondern alle Kräfte zu der möglichen Verbesserung einsetzt!

An earnest young seeker called Sam
Said, "I think I've found out what I am.
I'm a creature that moves
In predestinate grooves.
I'm not even a bus; I'm a tram."

(Ein ernsthafter junger Suchender namens Sam
Sagte: „Ich denk, ich weiß jetzt was ich bin.
Ich bin ein Geschöpf, das sich bewegt
In festgelegten Bahnen.
Ich bin nicht mal ein Bus; ich bin eine Tram.“)

Sam ist insofern ein Gewinner, dass er sich nicht mehr über sich selbst täuscht, aber seine Situation ist nicht ganz so desolat und aussichtslos, wie er glaubt. Nicht alles ist determiniert und schon gar nicht für die wenigen, die bereit sind, hart an sich zu arbeiten.

All die Eigenschaften, die wir uns wie selbstverständlich zuschreiben, sind nämlich unser angestammtes Geburtsrecht, sie sind auch ursprünglich bei der Konstruktion des sog. „homo sapiens sapiens" angelegt worden, aber sie sind nicht freigeschaltet. Nur wir selbst können durch unablässige und große eigene Anstrengungen dieses Potential aktivieren. Solange wir das nicht tun, können wir nicht wirklich neue Dinge tun. Bis wir soweit sind, wird die Zeit nur immer im Kreis gehen, alles wird eine Wiederholung alter schon erlebter Situationen, Probleme und Gefühle sein. „Hat man Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebnis, das immer wiederkommt“, wusste schon Friedrich Nietzsche.
Wir werden immer auf dieselben Personen „reinfallen“ und immer in denselben Schwierigkeiten stecken. Obwohl unsere Uhr rund ist in intuitiver Erkenntnis, dass die Zeit im Kreis geht und eine Wiederholung ist, und obwohl wir sehen, dass sich in der Natur alles zyklisch bewegt: Tag/Nacht, Sommer/Winter, glauben wir unerschütterlich daran, dass das reine Verstreichen der Zeit uns die Erfüllung unserer Träume bringt.
Wir Menschen stehen wie die anderen Tiere mit den Füssen auf dem Boden der Erde, unser Kopf aber ragt ins Universum, denn wir haben ein bisschen Bewusstsein. Wir sind vielleicht nach „göttlichem“ Bilde erschaffen und tragen diese Möglichkeit individueller psychologischer Evolution in uns.
Aber, wie ich nicht müde werde zu warnen: Es ist keine kollektive Evolution wie bei den anderen Tieren. Diese scheint mir eher mit dem Zusammenbruch der Zweikammer-Mentalität als abgeschlossen. Der Einzige kann sich vervollkommnen. Aber die Menschheit als Ganzes wird weder besser noch schlechter.
Wir haben den Fahrstuhl verlassen und müssen jetzt, jeder einzeln, zu Fuß den Weg weiter nach oben finden.
Und wir können uns von den Anstrengungen der eigenen Arbeit auch nicht durch Mitgliedsbeitrags- oder Ablasszahlungen freikaufen. Kein Gott, kein Heiliger, kein Guru, kein -ismus, kein Buch, kein Mantra, keine Reise an sog. „heilige“ Orte kann uns zu mehr Bewusstsein und eigener Verantwortung verhelfen, solange wir unser altes „Ich“ überall mit hinnehmen.

Keith R. Kernspecht


PS: Diese Erkenntnisse sind nicht mein geistiges Eigentum, sie gehören allen. Ich widme sie denen, die sich auf einem nie endenden Guru-Trip befinden und niemals bei sich ankommen.
Was haben diese meine Absonderungen nun mit WingTsun zu tun? Mit der ersten und zweiten Ebene eher nichts, aber mit der 3. schon sehr viel.
Heißt es in der 1., der körperlichen Ebene, „Mach dich frei von deiner eigenen Kraft“ und praktiziere „Siu-Nim-Tau“ (Kleine Idee), dann entspricht das in der 3., der psychologischen Ebene, sich auf sich selbst zu besinnen, ganz von vorne anzufangen, alles in Frage zu stellen, nichts zu glauben und zuerst an sich selbst zu zweifeln und zu überprüfen, ob die Dinge wirklich so sind, wie unsere Sinne es uns glauben machen wollen.