Editorial

Gasteditorial

Liebe Leserinnen und Leser meiner allmonatlichen Editorials, heute möchte ich Euch etwas Neues vorstellen: das Gast-Editorial ...

Zum einen, weil ich nach Hongkong abreise, um mit meinem Si-Fu dessen 58. Geburtstag zu feiern und um als einer der wenigen weißen Teufel und Langnasen als Beobachter dem Probelauf der sog. Chi-Sau-Meisterschaften beizuwohnen. Zum anderen aber auch, weil ich mich über Rolfs starken Glauben freue (ihn vielleicht sogar darum beneide?) und seine engagierten Gedanken zum Christentum mit Euch teilen möchte.

Aber jetzt soll Rolf Weinreich das Wort haben!

Euer Keith R. Kernspecht

Anmerkungen zu Ihren Gedanken in der letzten WT-Welt:

Sehr geehrter Großmeister Kernspecht,

ich trainiere seit dreieinhalb Jahren WingTsun bei meinem Sifu Frank Durst in Giessen. Seit dieser Zeit fasziniert mich diese Kampfkunst aus vielerlei Gründen. Zum einen habe ich keine Rückenschmerzen mehr, was allein schon ein völlig ausreichender Grund wäre, WT zu betreiben. Daneben habe ich aber auch schon von der ersten Stunde an den Eindruck, dass es im WT eigentlich um mehr geht als darum, sich verteidigen zu können. Es ist zugleich ein Weg nach innen, ein Lebensphilosophie. In diesem Zusammenhang sind mir schon sehr früh zum einen Ihre acht Prinzipien aufgefallen, die man ja allesamt auch als Regeln zur rechten Lebensführung verstehen kann, wie auch ihre Ausführungen in der WT-Welt, in denen Sie sich nicht in erster Linie als Lehrmeister eines Kampfstiles, sondern als ein spirituell suchender Mensch zu erkennen geben, was mir außerordentlich sympathisch ist. Ihr neues Buch hat als Titel ein Wort Jesu, und auch ansonsten erschließt sich dem aufmerksamen Leser sehr schnell, dass Sie augenscheinlich die Bibel immer mal wieder zur Hand nehmen (wahrscheinlich auch andere „heilige“ Bücher).
Auch in der neuen Ausgabe der WT-Welt gehen Sie in ihrem Brief an Jan Silberstorff – ausgehend von der gemeinsamen Mitte der verschiedenen Kampfkunstarten – auf die Religionen ein und ordnen diese gemeinsam um die Mitte ihres (esoterischen) Kreises herum an, um zu zeigen (so habe ich Sie verstanden), dass die Religionen im Grunde das Gleiche wollen und auf das Gleiche zielen.
An eben dieser Stelle möchte ich mir einen Kommentar zu Ihren Ausführungen erlauben. Dass ich mir dies ihnen gegenüber herausnehme, ohne darum gebeten worden zu sein, liegt keineswegs daran, dass ich meinen würde, meine Gedanken wären von weltumstürzender Wichtigkeit. Dass Sie aber ihren Gedankenaustausch mit Herrn Silberstorff in der WT-Welt einer so breiten Öffentlichkeit präsentieren, bringt mich zu der Annahme, eine Anteilnahme der interessierten Leserschaft könnte durchaus auch in Ihrem Interesse liegen. Zum anderen schreibe ich Ihnen, weil ich selbst Christ bin, also Anhänger einer der Religionen, die Sie in so schöner Ordnung um den esoterischen Kreis gezirkelt haben, und in dieser Sache erlaube ich mir eine kleine, aber aus der Perspektive meines Glaubens entscheidende Anmerkung.
Was das Christentum anbelangt, haben Sie sicher recht, wenn Sie es in eine Reihe mit den anderen Institution gewordenen Religionen stellen und ihm unterstellen, es habe in erster Linie wohl primär soziologische, ökonomische oder sonstige derartige Funktionen, wie ja auch alle anderen Glaubensarten, die sich in Form einer wie auch immer gearteten Institution manifestieren.
In diesem Punkt geben ich Ihnen, auch als Christ, nachdrücklich Recht. Genau so nachdrücklich bestreite ich aber auch, dass mit einer derartigen Beschreibung der äußeren Erscheinungsform des Christentums auch nur ansatzweise irgend etwas Relevantes über die Seele dieser Religion, über den eigentlichen Gegenstand ihres Glaubens gesagt worden wäre. Dies ist aus meiner Sicht als Christ nicht der Fall! Oder anders gesagt: Es ist in Ordnung, das Christentum in eine Reihe zu stellen mit dem Islam, dem Buddhismus, dem Konfuzianismus etc. Es ist aber keineswegs in Ordnung, Jesus Christus in eine Reihe zu stellen mit Mohammed, mit Buddha, mit Konfuze etc.
Nicht das Christentum ist Gegenstand des Glaubens eines Christen, sondern Jesus Christus selbst. Wir Christen vertrauen uns nicht der Lehre des Jesus von Nazareth an, sondern wir vertrauen uns ihm selbst an. Er ist (um in dem Bild ihres Kreises zu bleiben), nicht ein Wegweiser zur Mitte des Kreises hin, sondern er ist selbst die Nabe, das Zentrum dieses Kreises. Die Wahrheit ist nicht ein Etwas, sondern ein Jemand – Christus selbst. Die Wahrheit ist kein abstraktes, in sich ruhendes Prinzip, sondern ein menschenfreundlicher Gott, der in Jesus Mensch wird, weil er uns nahe kommen will. Er bleibt nicht in der Mitte seines Kreises, sondern macht sich auf die Suche nach denen, denen diese Mitte verloren gegangen ist und bietet uns aus Gnade an, unsere Mitte im Glauben an ihn wieder zu finden. Das ist übrigens – kurz gesagt – der Kern der Weihnachtsbotschaft. So glaube es nicht nur ich, sondern alle Christen.

Um Mißverständnisse zu vermeiden, noch zwei weitere Anmerkungen:
Zum einen bin ich mir sehr wohl der Tatsache bewusst, dass dieser eben von mir skizzierten Behauptungen des christlichen Glaubens im Grunde genommen ungeheuerlich sind. Dass Gott in einem Menschen zur Welt kommt und in eine Windel pinkelt, ist für jeden aufgeklärten Menschen, der sich seines Verstandes zu bedienen weiß, schlicht und einfach eine bodenlose Zumutung.
Und daran ändert sich auch dann nichts, wenn man sich dazu entschließt, dieser Behauptung Glauben zu schenken und sein Leben an sie auszuliefern. Schon die ersten Hörer dieser guten Nachricht von Jesus empfanden sie als „skandalös“ (1.Kor.1,23). Aber ich vermag als Antwort auf diese Empörung heute auch nichts anderes zu sagen als die ersten Christen, die diesen Glauben predigten und dafür zu sterben bereit waren: Nur der versteht Gott wirklich, der ihn als Liebe versteht, und die Liebe tut nun mal verrückte Sachen. Wenn man den Schreibern des Neuen Testamentes glauben darf, geht Gott in seiner Liebe sogar noch weiter: Er läßt sich – das feiern Christen Ostern – von ihnen sprichwörtlich auf´s Kreuz legen. Er lässt sich von ihnen totschlagen und bietet ihnen doch durch seine Auferstehung das ewige Leben an.

Der letzte Punkt, der mir wichtig ist, betrifft die Frage nach der Toleranz. Denn Sie mögen mir gegenüber einwenden, dass der Glaube an Christus als die Mitte des Weltkreises zwangsläufig eine intolerante, ja vielleicht sogar gewaltbereite Haltung den anderen Religion und Lebensphilosophien gegenüber generiert. In diesem Punkt kann ich auch nur für mich selber sprechen, denn die Verfehlungen der Kirchen und eifernder Christen waren und sind so augenscheinlich (zuletzt G.W. Bushs Irak-Feldzug als religiös motivierter Kreuzzug), dass es unsinnig wäre, sie bestreiten zu wollen. Ich für mich persönlich möchte allerdings dem gegenüber unbedingt festhalten: Der Glaube, dass Christus die Wahrheit ist, beinhaltet für mich zugleich, dass ich mich der Wahrheit niemals bemächtigen kann, sondern umgekehrt: die Wahrheit will sich meiner bemächtigen, und ich soll dafür offen sein. Auch wenn das bedeutet, mich meinen vielen (auch religiösen) Lebenslügen stellen und aussetzen zu müssen. Dabei ist mir übrigens auch das WT eine wichtige Hilfe geworden. „Befreie dich von deiner Kraft“, heißt dabei etwa für mich:
Sei der, der du bist! Versuch nicht, ein anderer zu sein! Stelle dich der Wahrheit! Stelle dich der Begegnung mit Christus! Und so wie Sie, verehrter Großmeister, mir durch ihre Prinzipien helfen können auf dem Weg zu dieser Wahrheit, so können dies auch Buddha, Konfuze, Mohammed, Sokrates und die vielen anderen Lehrer und Lehrerinnen der Menschheit. Es fiele mir niemals ein, verächtlich über sie zu denken und zu reden, sondern ich bin dankbar für den unendlichen und unauslotbaren Reichtum, der mir durch sie erschlossen wird, denn alle Wahrheit ist für einen Christen ein Schritt auf Christus zu. Aber glauben werde ich – voraussichtlich – nicht mehr an sie, denn „die Mitte meines Kreises“ ist vergeben für das Kind in der Krippe, den Mann am Kreuz.
Sollten Sie diesen Brief tatsächlich bis hierher gelesen haben, bin ich Ihnen überaus dankbar. Bitte verstehen Sie mich nicht als Besserwisser, aber Ihre Ausführungen in der WT-Welt zielen eben zuweilen so aufs Grundsätzliche, auf die Wahrheit, dass es mir schwer fällt, stille zu halten, wenn ich den Eindruck habe, auch etwas beitragen zu können. Im übrigen grüße ich Sie sehr herzlich und verbleibe in der Hoffnung, Ihnen auch einmal in Fleisch und Blut begegnen und noch mehr als bisher von Ihrer Kampfkunst profitieren zu können.

Es grüßt Sie herzlich

Rolf Weinreich