Editorial

Ein Tag

Was macht denn eigentlich so ein Kung Fu-Großmeister den ganzen Tag? Diese Frage klärt ein solcher am besten selbst:

Aus dem Schlaf erwacht

Ich wache um 9 Uhr sehr erfrischt auf. Sechs Stunden tiefen Schlafes reichen mir. Ich lasse die Hunde raus, die schon wie Propfen vor der Tür stehen und mich stürmisch begrüßen, um sich dann auf dem Teppich zu wälzen und zu strecken.

Geistige Nahrung

Nach kurzem Besuch des Badezimmers zurück ins Bett. Eines der Bücher gegriffen, die auf meinem Nachtisch liegen. Es ist in englischer Sprache. Zwar ist mein mündliches Englisch aus Mangel an Übung schon lange nicht mehr das, was es vielleicht einmal war, aber lesen kann ich Englisches so, als wäre es deutsch.

Früher, vor vielen Jahren, begann ich meinen Tag hektisch, der Wecker riss mich ins „Leben“, das physische Leben riss mich weiter mit sich fort, ohne eine Chance des Abstandgewinnens, des Zu-mir-Findens, des Sich-an-mich-Erinnerns. Hypnotisiert und im Banne des Tagesgeschehens wurde ich von allem, was passierte, aufgesogen. Ich war kein „Mensch“ mehr, sondern so eine Art reagierender menschlicher Maschine. Ich identifizierte mich mit jedem psychischen Zustand, in dem ich mich gerade befand.

Las ich die Morgenzeitung, um „informiert zu sein“, wurde ich sofort negativ, denn in Zeitungen steht nur Negatives, Zeitungen, Magazine, Fernsehen verkaufen Negatives und Negativmachendes. Las ich meine SMS-Nachrichten auf leeren Magen, schmeckte mir das Essen nicht mehr, ging ich vor dem Frühstück zum Faxgerät oder ins Internet, ließ ich meist mein eigenes morgendliches Training ausfallen, um sofort auf die Ereignisse und Anfragen zu reagieren. Aber Eile und eine negative Stimmung gibt uns oft die falschen Ratschläge. man muss aus der richtigen Grundstimmung her die Dinge betrachten, man muss positiv eingestimmt sein, dann stimmt auch das Handeln.

Das erste, was ich deshalb morgens zu mir nehmen will, ist nicht körperliche, sondern geistige Nahrung, das erste, was ich reinige, ist nicht mein Körper, sondern ich betreibe geistige, psychologische Hygiene: Ich nehme höhere, „innere“ Gedanken in mich auf, von denen ich dann im Laufe des Tages weiterdenke. Zu diesem Zweck lese ich ca. eine halbe oder eine Stunde im Bett. Als Lektüre eignet sich das Neue Testament, die Bagavad Gita, der Koran, das Tao Te Ging, Vorträge oder Lehrgespräche von Konfuzius, Buddhisten, Sufis ... Die Ausrichtung ist dabei gar nicht das Wichtige, entscheidend ist, dass es sich um „psychologische“ Nahrung handelt, um Eindrücke, Impressionen, die uns von „oben“ oder von „innen“ erreichen und nichts mit dem physischen Leben und seinen Sachzwängen zu tun haben. Diese höheren Eindrücke sollen mich isolieren von der hypnotischen, einnehmenden Macht der „weltlichen“ Ereignisse da draußen, die mich runterreißen und zum Roboter versklaven wollen. Diese „höheren“ Einflüsse und Ideen sollen mich einstimmen, damit ich den ganzen Tag lang auf der Hut bleiben kann, mich an mich erinnere und nicht ­ unbewusst ­ andere verletze und ihnen Gewalt tue. Nur wenn ich eingestimmt bin, wenn ich stark bin, kann ich anderen helfen. Deshalb beginnt mein Tag mit dem scheinbaren Akt des Egoismus: nämlich des sich zuerst um sich selbst Kümmerns. Wieviele Schwache wollen anderen Schwachen helfen, aber wie soll das gehen? Man muss bei sich selbst anfangen.

Deshalb ignoriere ich das Piepsen des Nokia Communicators, der schon die 47. SMS-Nachricht ankündigt, deshalb steht mein Telefon auf „lautlos“, deshalb lese ich jetzt vom „Gesetz des Pendels“, nach dem jede Gewalt, die ein Mensch einem anderen antut, zu ihm selbst zurückkehren muss. Man erntet, was man gesät hat, was sonst? Die Geschichte ist voll von solchen Beispielen. Wer vom Schwert lebt, muss durch das Schwert umkommen. Wenn nicht in diesem Leben, dann vielleicht in einem anderen ... Wir können das nicht ausschließen. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“ ist deshalb eine gute Methode, sich von diesem Gesetz zu befreien, dem der mechanische (= unbewusste) Mensch unterworfen ist. Was ich tue, wird auch mir angetan werden, wobei das Konto nicht in einem einzigen Leben „gerecht“ ausgeglichen werden muss.

Der Henker wird gehenkt werden, der Gehenkte wird henken. Aktiv wird passiv, passiv wird aktiv. Die Situation kehrt sich um. Zur Übung und Psychohygiene kann man das aber auch selbst bewusst um-denken: sich hineinversetzen in die Rolle des anderen, auch die andere Seite sehen, auch den Gesichtspunkt des anderen berücksichtigen. Damit beziehen wir dann beide Ansichten, ohne eine auszuschließen, mit ein und bringen beide Gegensätze zur Mitte, wo sie aufhören welche zu sein. Eine gute Übung ...

Nach dem Lesen denke ich von diesen Gedanken weiter, indem ich davon inspiriert, selbst ein paar Notizen mache, am Rand des Buches (aus Respekt vor dem Autor mit Bleistift) oder in eine Kladde oder Tagebuch.

Normale Nahrung

Nun stehe ich geistig gestärkt auf und „frühstücke“ mit Äpfeln, Orangen, Mangos, Birnen, Papayas, Bananen und vielen bunten „Wunderpillen“ (Vitamine, Mineralien, usw.), die ich mit Weizenkeimöl, Tee und frischgepresstem Orangensaft herunterspüle.

Eigenes Training

Dann gehe ich ohne Hast vor meinen Spiegel, greife die WT-Doppelmesser und übe die ganze, lange Messerform im dankbaren Bewusstsein, dass mein Si-Fu mir sie in dieser Genauigkeit beigebracht hat. Seit 23 Jahren praktiziere ich die komplizierte Messerform Yip Mans, und seit ca. 18 Jahren jedes Jahr (mit allen Anwendungen) mehrfach mit meinem Si-Fu, so verstehe ich sie jedes Jahr, nach jedem Unterricht besser. Die Bewegungen der Form werden immer mehr Teil von mir, verändern meinen Körper und meine Art, mich zu bewegen, sie fließen ein in meine waffenlosen Bewegungen und modifizieren sie entsprechend, indem sie ihnen eine andere Qualität geben, die man wahrnimmt, aber nicht beschreiben kann. (Das gleiche gilt in besonderem Maße natürlich auch für die Langstockform, die ich für mindestens genau so wertvoll halte. Während GGM Leung Ting nur mir und drei chinesischen Schülern (1 Mal!) jemals die Messerform gezeigt hat, hat er Ende 2002 begonnen, die Langstockform in USA an 4. TGs zu unterrichten, was auch für mich das Startzeichen war, es in Europa ebenso zu handhaben, und allem Anschein nach werden ab spätestens 2005 auch 3. TGs in diesen Genuss kommen.) Nachdem ich mit den offiziellen, leichten Messern trainiert habe, die Si-Fu, wie er mir erklärte, nach dem Entwurf des verstorbenen Großmeisters Yip Man entwickelt hat, nehme ich besonders große und schwere „Breitschwerter“ und wiederhole die Bewegungen, danach übe ich sie noch einmal mit einem antiken Bajonett, wobei ich die Metallscheide wie ein zweites Messer verwende. Aufgrund der verschiedenen Größen und Gewichte und Formen erhalte ich immer mehr Einsichten in die Funktion der Bewegungen.

Dann gehe ich zu meiner Klimmzugstange und mache mit Genugtuung und parallelem Griff (gut für Si-Fus „Affenhand“-Djat-Sao !) 14 Klimmzüge mit zwei an mich angehängten Hantelscheiben von je 5 kg. Soviel für Rücken und Bizeps. Letzteren brauche ich nicht für WT, sondern für mein Wohlbefinden. Aufgrund meiner Beinhaltung trainiere ich gleichzeitig meine Bauchmuskeln.

Auch beim Barrenpumpen reicht mir ein einziger Durchgang (Satz) mit 30 Wiederholungen und diesmal 15 kg zusätzlicher Gewichtsbelastung. Eine Übung, die meine Trizepse (die wir im WT brauchen, allerdings nicht so oft in dieser Richtung) und meine Brustmuskulatur wohltuend mit Blut füllt. Wenn ich mehr für mich trainieren würde, bekäme ich ein schlechtes Gewissen, denn inzwischen ist es etwa 12 Uhr und die Pflicht der EWTO gegenüber ruft mich, ich muss mich dem Tagesgeschehen widmen, aber erst duschen und zwar sehr ausgiebig.

Nach dem Duschen einen wohlgefällig-kritischen Blick in den Spiegel mit leicht zusammengekniffenen Augen: „Geht schon, man ist ja nicht mehr der Jüngste.“

Büroarbeiten

Nun Mut gefasst und als erstes die SMS lesen. Diesmal fast nur Positives:
Eine Werbeidee von Lothar, die mir als auf den ersten Blick toll erscheint, aber bei den Experten kontrovers diskutiert wird und schließlich als nicht passend durchs Raster fällt. In Bulgarien kann WT in den Behörden Fuß fassen. In England wird eine alte Kirche gekauft und (was das Interieur betrifft) in die vielleicht schönste WT-Schule der Welt verwandelt. Australien braucht englische und chinesische TG-Urkunden. Südafrika bildet Personenschützer im WT aus. Unglaubliche Technik: SMS aus Afrika und Australien! Ein Ausbilder soll unter Ausnutzung seiner Autorität als Sifu seinen leichtgläubigen Schüler ausgenutzt haben. Ich will beide Seiten hören! Ein Schulleiter eines anderen wing chun-Verbandes will gleichzeitig Mitglied mit seiner Schule Mitglied der EWTO sein? Sorry, geht nicht. Ein Si-Fu beantragt für seinen sterbenskranken Schüler die Verleihung zum I. TG ehrenhalber? Sehr gerne! Ich schreibe die Urkunde aus und hoffe, dass sie ihn noch rechtzeitig erreicht. Welches Thema ich Ostern auf dem TR4-Seminar unterrichten will? „Geschichte des WT“ sei gefragt, weil es lange nicht mehr dran war. OK und als 2. Thema „Strategien in der Selbstverteidigung“.
Jetzt ist noch mehr Mut gefragt: Rein ins Internet und E-Mails lesen und beantworten. Ein Schulleiter informiert mich: Ein über 20 Jahre alter (!) Schmähbrief gegen die EWTO sei von einem Unbekannten ins Netz gestellt worden und ein Ex-EWTO-Schüler und Mitbewerber habe sich als Weiser aufgespielt und salbungsvolle Worte geheuchelt, bevor man ihn selbst als den Urheber des Ganzen entlarvte. Ich vernehme es, aber wundere mich nicht, ärger mich nicht und nehme es auch nicht übel. Wir Menschen sind so. Wer kann sagen, ob er in einem schwachen Augenblick nicht auch dazu fähig wäre? Wer sich selbst beobachtet wie eine Fotokamera, weiß um die wahre und traurige Beschaffenheit unserer Natur. „Dennoch darf kein Zug von besonderer Niedertracht oder Dummheit, der uns im Leben aufstößt, uns je ein Stoff zum Verdruss und Ärger, sondern bloß zur Erkenntnis werden, indem wir in ihm einen neuen Beitrag zur Charakteristik des Menschengeschlechts sehn und demnach ihn uns merken. Alsdann werden wir ihn ungefähr so betrachten wie der Mineralog ein ihm aufgestoßenes sehr charakteristisches Spezimen eines Minerals.“ In seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“ fährt Schopenhauer fort: „Ausnahmen gibt es, ja unbegreiflich große, und die Unterschiede der Individualitäten sind enorm: aber im ganzen genommen, liegt, wie längst gesagt ist, die Welt im argen: die Wilden fressen einander und die Zahmen betrügen einander, und das nennt man den Lauf der Welt.... Sehn wir nicht in der ganzen Geschichte jeden König, sobald er fest steht und sein Land einiger Prosperität genießt, diese benutzen, um mit seinem Heer wie mit einer Räuberschar über die Nachbarstaaten herfallen? Sind nicht fast alle Kriege im Grunde Raubzüge? ... >Dans toutes les guerres il ne s‘agit que de voler< (In allen Kriegen geht es nur darum, zu stehlen), sagt Voltaire, und die Deutschen sollen es sich gesagt sein lassen ...“

Um 15 Uhr sitze ich immer noch vor dem Laptop, lese und beantworte Mails, SMS und Faxe. Zwischendurch serviert mir die beste aller Gattinen heißen und bitteren Espresso, damit ich motiviert bleibe.

Ortsveränderung

Dann mit meinem Autoliebling (Jaguar E-Type, Serie 1) ins Fotoatelier: Fehlende Bilder zu meinem neuen Buch mit dem Arbeitstitel „Schneller als die Angst“ nachmachen, auf dem Rückweg einen Buchhändler fragen, wann er eine „Dichterlesung“ mit Karl Koch „Karl v. der Küste“ veranstalten könnte.

Danach mit 53 TG-Arbeiten ins Stadt-Cafe, wo ich geniale und nicht so interessante Arbeiten lese, mit Anmerkungen versehe und mich immer wieder darüber wundere, weshalb manche Leute die einzelnen Seiten ihrer TG-Arbeit in Plastik-Umschläge hüllen, so dass ich sie erst mühsam einzeln entkleiden muss, bevor ich meine Bemerkungen an den Rand schreiben kann. Tatsächlich befanden sich noch verirrte Arbeiten vom November 2002 darunter, denen ich dann nicht das wirkliche Datum vom März 03, sondern vom Dezember 02 oder Januar 03 gebe, damit sich ihre Vorbereitungszeit bis zum nächsten TG nicht meinetwegen verlängert.

Zum Arbeitsessen ins Restaurant mit einer Redakteurin der „Kieler Nachrichten“. Ja, sie sieht eine Möglichkeit, Karl Kochs Buch in der Lokalredaktion unterzubringen, denn schließlich war Karl eine „Kieler Größe“. Zusätzlich biete ich mich an, Anzeigen zu schalten.

Zurück ins Heim

Zu Hause erwartet mich meine italienische Sekretärin, der ich zweimal die Woche je zwei Stunden lang eine Stehgreifübersetzung von GGM Leung Tings Buch „Cham Kiu-Form“ in den Laptop diktiere, eine langwierige und schwere Arbeit, da der englische Text stellenweise ziemlich unverständlich ist und manche Rückfrage in Hongkong erfordert.

Als sie um 23.30 geht, lege ich Sifu Leung Tings Tape mit seinem Seminar „Standardversion der 1. Sektion Chi-Sao“ ein und vergleiche den Ablauf auch praktisch mit den angefertigten Protokollen, wofür Si-Mo im wahrsten Sinne des Wortes ihre Arme herhalten, also nach vorne ausstrecken muss. Zwischendurch kommen zu korrigierende Seiten für unsere englische Ausgabe von „WingTsun Welt online“ herein und die neuen 16 Seiten des intern. Kampfkunstmagazins.

Ins Bett

Um 03.10 bin ich dann im Bett, wo ich noch eine halbe Stunde Erbauliches und möglichst trocken Geschriebenes studiere, um schnell müde zu werden. Nachdem ich gelesen habe: „Alle Religionen zielen auf das Gleiche ab, auf die Transformation der menschlichen Existenz durch ihre Zentrierung auf Gott. Ihre unterschiedliche Sicht der letzten Wirklichkeit bedeutet nicht, dass eine im Recht und alle anderen im Unrecht sind. Im Gegenteil, alle Religionen haben gleichermaßen Anteil an der göttlichen Wahrheit, sie führen auf unterschiedlichen Wegen zum gleichen Berggipfel. Deshalb dürfen sie ihre Heilswege nicht verabsolutieren, sondern müssen zugeben, dass es viele Religionen und Propheten gibt.“ fallen mir die Augen zu, ich lege mein Buch zur Seite, lösche das Licht und bin sofort eingeschlafen.

Euer Si-Fu/Si-Gung

Keith R. Kernspecht
10. Meistergrad WingTsun
Gründer, Leiter und Cheftrainer der EWTO