Editorial

Darf man WingTsun-Techniken verändern?

Aufgrund meiner praktischen und wissenschaftlichen Arbeit der letzten Jahre haben sich im Unterrichtsprogramm einige Änderungen ergeben. Dies warf Fragen auf: Wann darf man WingTsun verändern? Was darf man im WingTsun verändern? Was nicht? Und was muss geändert werden?

WANN darf man WingTsun verändern?
Nur ein Großmeister, der die gesamte Strategie und Taktik des WingTsun und die chinesische Philosophie kennt, darf Veränderungen vornehmen und er darf es sich damit nicht leicht machen.
Ich habe mir erst erlaubt, lange anstehende Veränderungen zu beginnen, nachdem ich vor zehn Jahren von meinem SiFu Leung Ting den 10. Meistergrad zugesprochen bekam.

WAS darf man im WingTsun verändern?
WingTsun ist nach unserer Auffassung ein inneres Kampfsystem oder, um es anders auszudrücken, ein prinzipienorientiertes System. Wäre es technikorientiert, wie die äußeren Stile (Karate, TaekwonDo, Shaolin usw.), dann wäre WingTsun die Summe seiner Techniken (Kettenfauststoß, BongSao usw.) und alle Techniken wären heilig und unantastbar.
Unser WingTsun besteht aber nur für den Anfänger aus festgeschriebenen Techniken. Für den Fortgeschrittenen sind Techniken, wie man sie aus den Formen extrahieren kann, nur beliebige Beispiele, die dazu dienen sollen, das übergeordnete Konzept und die Prinzipien zu verstehen und zu verinnerlichen; denn Prinzipien lernt man nicht durch Auswendiglernen von Regeln, sondern durch möglichst viele verschiedene Beispiele. Diese findet man in den Solo- und Partnerformen und darin besteht u.a. deren Wert.
Natürlich darf oder muss ein Großmeister die Beispiele verändern, wenn sich die Situation verändert hat. Gäbe es Angreifer mit drei Armen und einem zweiten Kopf auf dem Rücken, wäre es höchste Zeit, die Beispiele (Techniken) zu verändern.

Was darf man im WingTsun NICHT verändern?
Man darf das Gesamtkonzept und die Prinzipien nicht verändern, denn darin ist die geniale WingTsun-Kampflogik enthalten. Diese Logik ist nicht zu verbessern. Aus den terminierenden Prinzipien und den Unterprinzipien entstehen in der Interaktion mit dem Gegner Bewegungen des Augenblicks. Diese Bewegungen werden nicht „gemacht“ und nicht geplant und nicht ausgeführt. Sie „geschehen“ (Wu Wei). Streng genommen „macht“ und bestimmt der Gegner unsere Bewegungen im WingTsun.
Damit sich die ganze Wirkung des WingTsun entfaltet, damit wir mühelos Wirksamkeit bewirken, ohne sie erzielen zu wollen, dürfen wir die Prinzipien niemals verändern. Die WingTsun-Prinzipien sind es, was WingTsun ausmacht. Nur für Laien und Anfänger ist WingTsun ein BongSao oder das Training an der Holzpuppe.
Wer auf die Idee kommt, sich z.B. aus WingTsun, Escrima und Ju-Jitsu etwas zusammenzubasteln, mag durchaus etwas kombiniert haben, was – für ihn persönlich – funktioniert, aber WingTsun ist es nicht! WingTsun ist es nur, wenn die WingTsun-Prinzipien jede Bewegung hervorbringen.

Was MUSS man heutzutage im WingTsun verändern?
1. Unsere potentiellen Angreifer haben zwar noch keinen dritten Arm, aber was schlimmer ist, sie benutzen immer häufiger mitgeführte Messer. Mancher, der heute nicht mehr lebt, glaubte, von einem Fauststoß in den Bauch getroffen zu werden. Als er verblutete, merkte er es zu spät.
Wir müssen ab sofort aus der veränderten Gefahrenlage die Konsequenz ziehen und jeden vermeintlichen Fauststoß wie einen Messerstich behandeln. Aufgrund der veränderten Reichweite ändert sich notgedrungen unsere Körperhaltung: Wir werden uns öfter vorbeugen und zurücklehnen müssen. Aber das ist nichts Neues. Das lernt man im Rahmen der 3. Form des WingTsun und natürlich bei der Arbeit mit den klassischen WT-Doppelmessern.

2. Fairness ist seit Beginn der 1980er Jahre auf der Straße nicht mehr zu erwarten.
Wir haben es heute auf Bahnhöfen, Parkplätzen, in Bussen und U-Bahnen mit mehr als nur einem Angreifer zu tun.
Konsequenzen: Eine Hand muss für einen Angreifer reichen, die zweite Hand wird für den zweiten Angreifer benötigt.
Weiterhin muss Schluss mit dem exzessiven Wenden und Gewichtverlagern sein, denn sonst bieten wir dem zweiten Angreifer unseren Rücken an.
Wir müssen verstärkt üben, wie wir am Boden nicht von den Tritten der Angreifer getroffen werden; denn das ist neben Messerstichen die tödliche Gefahr, auf die wir uns und unsere Schüler heutzutage vorbereiten müssen.

WingTsun, so schrieb ich schon vor über 30 Jahren, ist aus Tradition untraditionell. WingTsun ist zum einen Philosophie in Bewegung und zum anderen praktische Wissenschaft. Und das Zauberwort im WT ist „Adaptation“. Passen wir uns also der neuen Gefahrenlage an. Dazu ist keine Veränderung der ewig wahren Prinzipien nötig!

Euer SiFu/SiGung Keith R. Kernspecht