Editorial

ChiSao mit dem Lehrer

In den vergangenen Monaten lag der Schwerpunkt meiner Betrachtungen auf dem Miteinander unter Schülern. Jetzt geht es um das Verhältnis von Lehrer und Schüler im ChiSao.

ChiSao mit dem Lehrer
(SiFu, SiHing …)

„Wofür hat mein Lehrer mich heute beim ChiSao-Training so hart bestraft?“

Wie viele Schüler mögen sich diese bange Frage schon gestellt haben, aber leider nicht der einzigen Person, die vielleicht die Antwort wüsste: ihrem Lehrer (SiFu).

Bitte um Verständnis für den Lehrer in seiner Rolle

Ich bin WT-Lehrer und ich war über 30 Jahre lang selbst Schüler. Deshalb weiß ich, was im Schüler und im Lehrer vorgeht. „Schüler“ meint in diesem Text nicht Anfänger. Gegenüber seinem SiFu ist auch ein 8. oder 9. Meistergrad ein Schüler.
Ein Lehrer kann es sich in seiner exponierten Rolle kaum leisten, besonders nicht vor Zuschauern, getroffen zu werden oder eine schlechte Figur abzugeben. Am Ende steht für ihn mehr auf dem Spiel als für seinen Schüler, der nur spielen oder sich ein wenig vor seinen Klassenkameraden profilieren will.

Pädagogische Gründe

Selbst wenn der Lehrer souverän genug ist, sein Ego im Griff hat oder sich nicht als „untreffbar“ sieht oder nach außen darstellt, mag er denken, dass es einem speziellen Schüler – aus pädagogischen Gründen – nicht gut tut, wenn der den Eindruck hat, dass er seinen Lehrer treffen kann.

Wehret den Angebern

Vielleicht hatte der Lehrer mitbekommen, dass der Schüler die Angewohnheit hat, seinen Mitschülern zu erzählen, dass er alle Angriffe des Lehrers mit Leichtigkeit abwehren kann?

Zuschauer sind auch Teilnehmer

Sind Zuschauer anwesend, die Freundin des Schülers oder des Lehrers, andere Schüler oder Fachkollegen des Lehrers oder eine Video-Kamera, dann beeinflusst das den Ablauf; denn wie wir aus der Quantentheorie wissen, ist jeder Zuschauer irgendwie ein Teilnehmer, das gilt auch fürs ChiSao.

Vorsicht Handy-Falle

Stand vielleicht Ihr Freund mit einem dieser modernen Mobiltelefone, die fotografieren und filmen können, bereit, um Ihre ChiSao-Session mit Ihrem SiFu der Zukunft zu erhalten? Und da wundern Sie sich, dass er Ihnen keine Chance lässt?
Dabei wäre den Lehrer treffen per se kein Beweis für gemachten Fortschritt.
Es geht nicht darum, den Lehrer auf Kraft zu treffen. Der Lehrer merkt auch so, wenn Sie Fortschritte gemacht haben.

Herausforderung angenommen

Gut kommt es auch nicht an, wenn man den Lehrer fragt: „Darf ich dich eigentlich auch einmal treffen oder muss ich mich nur verhauen lassen?“ Das könnte der Lehrer als Herausforderung auffassen, die er nicht ablehnen kann: „Aber natürlich kannst du jederzeit angreifen. Viel Vergnügen!“
Wetten, dass das Vergnügen sehr einseitig bleibt?

 

Weitere Probleme, die beim ChiSao-Unterricht mit dem Lehrer auftauchen können

Ist nur die Version meines Lehrers richtig?

Eine andere Frage, die mir natürlich ebenfalls während meiner ChiSao-Lernzeit kam, die ich mir aber klug verkniff, war: „Muss ich eigentlich in dieser festbestimmten Weise reagieren? Darf ich nicht das machen, was mir liegt und wobei ich mich viel wohler fühle? Warum ist alles andere völlig falsch und nur die von dir vorgeschriebene Reaktion die einzig richtige?“
Man fühlt sich – per Kraft der Autorität – gezwungen, sich in Stellungen zu begeben, die, wie man glaubt, nie im echten Kampf entstehen würden, und hat damit Recht!
Wahr ist aber auch, dass es in einer gegebenen Situation nach der WingTsun-Logik nur eine einzige, wirklich mühelose Lösung für Sie gibt! Aber der Lehrer kann diese Situation hinterher auch noch so oft nachstellen und zu rekonstruieren versuchen, diese Gelegenheit ist unwiederholbar. Und selbst wenn sie es nicht wäre, ist der Lehrer nicht Sie, und der beste Kenner für Sie ist kein anderer als Sie selbst. Was Ihre Person anbelangt, sind Sie der Experte!
Die wahre Überlegenheit, über die Ihr Lehrer oder Meister verfügen sollte, ist unscheinbar, nicht spektakulär, nicht augenfällig und nicht durchschaubar. Sie schöpft aus einem anderen Vorrat: nicht aus der Autorität der Seniorität oder der Graduierung und nicht aus der Trickkiste. Sie ist mit dem sich ständig erneuernden Fond der Sensitivität und des Timings verbunden und deshalb wirklich „unvermeidbar“.

Nachlässigkeit des Lehrers nicht ausnutzen

Natürlich ist z.B. der FookSao des Lehrers so gut, dass der Schüler mit seinem Angriff nicht durchkommt. Normalerweise. Wenn er aber lässig ist oder gar nachlässig, achtet er vielleicht nicht auf die korrekte Position seines Ellbogens. Während er es als sein Vorrecht betrachtet oder nachgerade als Lehrerpflicht, leicht zum Bauch des Schülers durchzustoßen, wenn der nachlässig und sein FookSao nicht korrekt positioniert ist, würde er es für unangebracht halten, wenn der Schüler es bei ihm täte. Besonders wenn der Lehrer ein bestimmtes vorher genau definiertes Lehrziel mit seinem Schüler angehen will, auf dass er sich konzentriert, wird er bestimmt nicht besonders beglückt reagieren, wenn der unter seinem FookSao besserwisserisch durchstößt.

„Sorry, SiFu, ich wollte dich nicht treffen!“

Was man auch auf keinen Fall tun sollte, ist sich lautstark, so dass es alle anderen Schüler mitbekommen, beim Lehrer dafür zu entschuldigen, dass man ihn eben getroffen habe: „Sorry, SiFu, dass ich dich getroffen habe, ich wollte das gar nicht.“
Auch Lehrer sind keine Supermänner und können getroffen werden, aber dann muss man das nicht hinausposaunen. Der Lehrer könnte auch das Gefühl bekommen, dass nicht der Wunsch um Verzeihung, sondern Prahlen mit dem Treffer das wahre Motiv war.
Womöglich hat der Lehrer seinem Schüler auch extra eine Deckungslücke gelassen, um ihm eine Gelegenheit zum Üben zu geben.

Dies ist ein weiterer Auszug aus meinem Buch „Kampflogik 3!“, erschienen im EWTO-Verlag Juni 2011, das jetzt in der 2. überarbeiteten und erweiterten Auflage mit nunmehr 441 Seiten wieder verfügbar ist.

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht