Editorial

WingTsun und Corona-Zeit – oder wie geht unser Verband mit dieser „Krönung“ um?

Es ist hinlänglich bekannt – am 16. März dieses Jahres wurde in Österreich und der Schweiz, am 27. März in Deutschland von der Landesregierung die außerordentliche Lage ausgerufen. Es kam zum Lockdown und ein Großteil der Geschäfte musste schließen.

Das hat uns Corona verboten:

Von heute auf morgen wurde uns untersagt, zu unterrichten, so wie wir es gewohnt sind und es gut können. Das war wohl für die meisten WingTsun-Lehrer wie ein Albtraum – für mich war es das auf jeden Fall. Es fühlte sich irgendwie nicht wirklich an. Als müsste man jetzt dann eigentlich wieder aufwachen. Man fühlte sich wie in einem schlechten Film.

Und doch war es Realität. Das ganz normale Leben stand auf dem Kopf, fand nicht mehr statt. Die Welt stand still. So etwas hatten wir alle noch nie erlebt. Es war für jeden Einzelnen ein Schock. Je nach Ort und Land gab es andere Bestimmungen. Es kamen Ausgangsperren, man durfte nur zum Lebensmitteleinkaufen raus oder es wurde einem eingetrichtert: „Bleiben Sie zu Hause. Vermeiden Sie Kontakt.“ Man durfte sich nicht mehr mit Menschen treffen und sich nicht mehr berühren. Ja, nicht einmal mehr mit guten Freunden oder der weiteren Familie zusammenkommen. Unseren Schülern wurde verboten, zu uns in den Unterricht zu kommen.
Es wurde uns verboten, unseren Beruf, unsere Lieblingsbeschäftigung auszuüben und unser Leben zu finanzieren, so wie wir es gewohnt waren.

Corona – Krise und WingTsun?

Es ist wie in einer tätlichen Angriffssituation – auf ganz großer Ebene. Ein unerwartetes Ereignis geschieht, das uns in unserer Existenz bedroht. Sofort kommen Angst-Gedanken: „Ich verliere alles.“, „Wie komme ich da heil durch?“, „Wer hilft mir?“ Auch ich wurde anfangs wütend und traurig. Doch dann merkte ich schnell, dass diese Gedanken mich nur lähmten und blockierten, mich in die Tiefe zogen. Ich erkannte, solche Gedanken führen dazu, dass man sich verspannt und je mehr man dagegen ankämpft, umso eher verliert man sein Gleichgewicht, seine Mitte.

Für mich waren die ersten drei Wochen genau so. Ich bekam eine kleine Erkältung mit Müdigkeit und eine Verspannung im Rücken. Ich habe auch nicht für mich trainiert, ließ mich nach unten ziehen.

An einem Tag sagte mir Gaby, meine Frau, ich solle endlich wieder das machen, was ich gern tue. Es war also Zeit, aufzuwachen und hinzusehen, achtsam zu sein auf das, was passiert, zu erkennen, wie ist die Gefahr tatsächlich? Sich wie im WingTsun zu fragen: „Was kann ich noch tun? Wie kann ich diese sehr schwierige Situation meistern? Wie kann ich diese Kraft aufnehmen und nützen für mein Fortbestehen?

Am nächsten Tag stand ich schon vor 6.00 Uhr auf und ging zum See, um die Formen zu trainieren. Das hat so gut getan. Ich merkte sofort, wie meine Motivation und Energie zurückkehrten. Ab diesem Zeitpunkt habe ich jeden Morgen meine Übungen gemacht und meine Begeisterung kam zurück – trotz andauerndem Lockdown. Ich motivierte mich trotz anfänglicher Skepsis für Zoom-Gruppenunterricht am Abend. Beim ersten Mal hatte ich ein bisschen Lampenfieber, da ich nicht wusste, wie ein solcher Unterricht am besten zu gestalten ist. Sobald die Schüler den virtuellen Raum betraten und ich zu unterrichten anfing, stellte ich mir vor, die Schüler seien bei mir im Raum und ich gäbe ganz normal Unterricht. Und es klappte. Die Schüler gaben tolles Feedback und das motivierte mich zusätzlich. Wir öffneten den Unterricht für die ganze Schweiz, alle Schüler, die mitmachen wollten, wählten sich ein. So konnte ich Schulleiter unterstützen, die keinen Zoom-Unterricht anbieten konnten. Ihre Schüler durften einfach bei uns mitmachen.

Die Stärke eines Verbandes in Krisenzeiten:

Gerade in der Krise hat sich gezeigt, dass wir gemeinsam stark sind und etwas erreichen können. Viele haben dazu einen Beitrag geleistet und kostenlos Trainingseinheiten gemacht, auf Facebook oder im Zoom. Hier möchte ich mich ganz herzlich bei allen Meistern bedanken, die morgens um 8.30 Uhr eine WingTsun-Einheit öffentlich und live zum Mittrainieren gemacht haben. Dadurch wurden viele Schüler erreicht und motiviert, etwas zu tun. Bis zu 20.000 mal wurden die einzelnen Clips angesehen. Vielen Dank auch für die Warrior Challenge, die viele von uns noch fitter gemacht oder gehalten hat. Ebenso herzlichen Dank den Großmeistern und dem ChiKung-Team für die Videos im Mitgliederbereich, die auch schon x-fach angesehen wurden. Vielen Dank für eure Feedbacks zu diesen Videos. Wir sind sehr froh, dass wir diese sehr schnell für euch zu Verfügung stellen konnten und so einen Mehrnutzen für euch generieren konnten.

Unser WT-ler Michi aus Küsnacht schriebt uns dazu begeistert:

«Das ganze EWTO-Team macht aus meiner Sicht einen fantastischen Job und bietet in diesen berührungslosen Zeiten die bestmöglichen Lösungen an! Die Trainings via Internet sind kurz und bündig, bieten mir eine Struktur im Alltag und Gefühl, in der Welt des WingTsun dazuzugehören. Nebenher gibt es ja noch genügend Möglichkeiten zum Selbststudium, was ich sehr schätze.

Die Instruktionsfilme im Mitgliederbereich sind eine richtige Fundgrube für mich! Seien es die erklärten Details in den einzelnen Sätzen der SiuNimTau, ChamKiu (sogar in 3D!), Gedanken zu Tan-, Fook- und BongSao, die Blitze, Kräftigungs- und Dehnübungen aus dem ChiKung, die Gleichzeitigkeiten, ganzkörperliches Schieben, Schrittarbeiten usw. Es sind eine Fülle von Informationen und Übungen für zuhause, engagiert erklärt durch Großmeister und Meisterinnen quer durch Europa, die mir viel Stoff zum Trainieren geben.»

Auch auf Zoom lief viel. Mein SiFu, Großmeister Kernspecht, hat sehr schnell Zoom-Tutorials angeboten für alle unsere Schüler. Der Vorteil von Zoom: Hier war man sogar bei ihm immer in der ersten Reihe, keiner stand einem vor der Nase.

Großmeister Oliver König bot Trainer-4-Seminare und Kleingruppen an, ich selbst habe ebenfalls etliche Zoom-Seminare gegeben, was sehr viel Spaß gemacht hat. Ich habe selbst viel dazugelernt, z.B. wie ich Schülern etwas beibringen kann, auch wenn ich sie nicht persönlich vor mir habe. Ebenso habe ich gelernt, die Körperhaltung auszuwerten und gezielte Tipps geben zu können.

Der Zoom-Ausbilderlehrgang hatte eine tolle Resonanz. Vielen Dank, dass ihr diese Möglichkeit wahrgenommen habt und danke für die vielen tollen Feedbacks.

Und ein großes Dankeschön allen Schülern, die treu zu uns halten und zum Teil sogar solidarisch ihren Unterricht weiterbezahlt haben, um ihre Schule vor Ort zu unterstützen, in dieser für jeden von uns schwierigen Zeit.

Wir wurden künstlich getrennt und doch sind wir nähergerückt – dank der Möglichkeit der Online-Medien. Bei meinem kostenlosen Zoom-Gruppenunterricht nahmen mit der Zeit sogar Schüler aus der Schweiz, Liechtenstein, Deutschland, Österreich, Israel, Italien, Norwegen und Spanien teil. Das war ein sehr schönes Gemeinschaftsgefühl: Wir sind eine große Familie.

Das hat uns die Corona-Krise gebracht:

Heute ziehe ich das bisherige Fazit aus der Corona-Krisenzeit. Wir haben definitiv gelernt, mit Einschränkungen umzugehen. Wir haben viele neue Ideen kreiert, uns neu erfunden, haben uns den Herausforderungen von neuer Technologie gestellt, sind vor die Kamera und über den eigenen Schatten gesprungen. Mehrmals. Haben persönliche Grenzen überwunden und gleichzeitig auch Distanzen zu entfernten Schülern überbrückt, was vorher nie in Betracht gezogen wurde.

EWTO-Geschäftsleiter haben sich regelmäßig zu Zoom-Sitzungen von Angesicht zu Angesicht getroffen und so viel koordiniert wie selten zuvor in so kurzer Zeit.

Es wurde mir wieder sehr bewusst, wie nützlich die WingTsun-Fähigkeiten und -Prinzipien im Alltag sind und wie wichtig, sie täglich umzusetzen.

Ich freue mich sehr, dass in Deutschland, Österreich und der Schweiz schon einige WingTsun- und Escrima-Schulen wieder angefangen haben, zu unterrichten. Mit den jeweiligen Schutzmaßnahmen!

Und hoffe sehr, dass die Maßnahmen nun rasch gelockert werden und wir wieder alle gemeinsam unsere geliebte Kampfkunst ausleben dürfen –- mit Kontakt.

Vielen herzlichen Dank an dieser Stelle euch allen für eure Motivation und allen Schulleitern und Landestrainern für eure Treue, euren Glauben an unser WingTsun und euren Durchhaltewillen.

Ich wünsche uns allen viel Erfolg für diesen Neustart!

 

Giuseppe Schembri