Editorial

Vom Umgang mit Widersprüchen

„Aber SiFu, letzte Stunde hast Du doch noch gezeigt, wie wir durch weiches Nachgeben einen Angriff neutralisieren können. Heute sollen wir hingegen üben, der Attacke des Gegners durch kraftvolle Stabilität zu begegnen. Was ist denn nun richtig? Hart oder weich? Nachgeben oder Widerstand leisten?“ Solche oder ähnliche Fragen wurden mir im Laufe meiner Unterrichtstätigkeit schon häufig gestellt. „Beides ist richtig. Es kommt auf die Situation an“, lautet dann stets meine Antwort.

So verkürzt lasse ich meine Erklärung aber selten stehen, denn einige auf den ersten Blick widersprüchliche Aussagen im WT-Unterricht können zugegebenermaßen für einen Anfänger ganz schön verwirrend erscheinen. Hart oder Weich? Nachgeben oder Widerstehen? Stabil oder flexibel? Stark oder schwach? Öffnen oder Schließen? Stoßen oder Ziehen? Nach vorn drängen oder zurückweichen? Boden oder Stand? Schlagen oder Treten?

Die Welt scheint voller Gegensätze zu sein und ganz besonders deutlich wird das beim Kämpfen. Denn hier geht es schließlich um Gewinnen oder Verlieren und entschieden wird das, weil man etwas richtig oder falsch macht. Entweder oder.

Es wirkt so, als wäre Eindeutigkeit das oberste Prinzip. Ein höchst attraktives zudem, da es absolute Sicherheit verspricht und nagende Zweifel ausschließt. Es ist nur zu verständlich, dass wir gewissermaßen eine natürliche Tendenz verspüren, Eindeutigkeit anzustreben. Nicht nur im Kampf.

Gleichzeitig lehrt uns das Leben täglich, dass Licht und Dunkel untrennbar miteinander verbunden sind. Wir wissen aus Erfahrung, dass es das eine ohne das andere nicht geben kann. Ohne oben kein unten, ohne vorn kein hinten, kein kalt ohne warm …

Ein Problem entsteht daraus erst, wenn wir darüber in einer bestimmten Weise nachdenken und beginnen, diese Dualität grundsätzlich zu bewerten. Vielleicht hängt das mit unserer kulturellen Prägung zusammen, in der auf der einen Seite das Gute und auf der anderen das Böse steht. Möglicherweise sind wir deswegen manchmal versucht, auch andere Gegensätze in „gut“ und „schlecht“, „richtig“ oder „falsch“ einzuteilen. Und zwar immer und grundsätzlich. Auf den ersten theoretischen Blick würde das alles viel einfacher machen. Auf den zweiten, praktischen Blick kommt der Faktor Zeit mit ins Spiel. Was im einen Moment „gut“ (in Bezug auf ein bestimmtes Ziel) ist, kann im nächsten Moment ganz „schlecht“ sein.
Das gilt insbesondere für Bewegungen, die ja nur in Raum und Zeit vorstellbar sind. Hier gibt es keinen wirklichen definitiven Endpunkt, die eine „beste“ Position – die ultimative Universalbewegung, die immer „richtig“ ist. In Bezug auf ein bestimmtes Ziel wohlgemerkt!
Genau das führt häufig zu Schwierigkeiten beim Vermitteln von Bewegungen, die einem bestimmten Zweck, in unserem Falle der Selbstverteidigung, dienen sollen. Im Prinzip geht es bei jeder Selbstverteidigung immer um Sicherheit in einem Kampfgeschehen, was meistens eine hochkomplexe Angelegenheit ist. Der Anfänger versucht zunächst diese Sicherheit dadurch zu erreichen, dass er die Komplexität gedanklich reduziert. Beispielsweise dadurch, dass er gern glauben möchte, dass eine Bewegung XY ganz bestimmt immer die richtige Lösung darstellt. Es dauert meist eine Weile, bis er durch scheinbar widersprüchliche Aussagen und Übungen seines Lehrers nicht mehr verwirrt wird.

Es gibt sowohl im Westen als auch im Osten Denkschulen, die diese Schwierigkeiten schon sehr früh erkannt und versucht haben, andere Herangehensweisen zu entwickeln. Die chinesische Philosophie des Taoismus z.B. hat diesen Dualismus der Welt bzw. unseres Denkens in einzigartiger Weise durch das Konzept von Yin und Yang abstrahiert und symbolisiert. Im Prinzip des Taiji, des „sehr großen Äußersten“, dem höchsten Prinzip des Kosmos, werden diese grundsätzlichen Gegensätze zu einem untrennbaren Ganzen vereint.

Insbesondere in den letzten Jahren hat Großmeister Kernspecht damit begonnen, die in Vergessenheit geratenen alten Erklärungsmodelle der Inneren Kampfkünste, aus denen das moderne WingTsun einst hervorging, wieder in die Unterrichtsprogramme der EWTO aufzunehmen. Das Konzept von Yin und Yang, von Taiji, als höchstem Prinzip des Zusammenwirkens der Gegensätze, stellt eine wertvolle Ergänzung der Unterrichts- und Trainingsmethodik dar.

In Theorie und Praxis werden Körper und Geist darin geschult, eben nicht mehr nach Eindeutigkeit zu streben, sondern dem Wechselspiel der Kontraste Raum zu geben. Wir streben körperlich und geistig danach, idealerweise den Weg der Mitte zu beschreiten, auf dem sich alle gegensätzlichen Kräfte die Balance halten. Dadurch eröffnen sich mehr Wahlmöglichkeiten, was Voraussetzung dafür ist, sich den unvorhersehbaren Ereignissen in einem Kampf anpassen zu können. Letztendlich kann dies von entscheidender Bedeutung sein.

So kann man beispielsweise aus der Bewusstsein der Mitte heraus Strategien ableiten, die die Komplexität eines Kampfes einschränken, indem man z.B. scheinbar etwas „Falsches“ tut. Man öffnet eine Lücke, um den Gegner einzuladen, dort anzugreifen. So schränkt man sowohl die Handlungsmöglichkeiten des Gegners als auch die eigenen ganz bewusst erheblich ein. Ausschlaggebend ist hier, dass man die neutrale Mitte kennt; denn nur so weiß man, welche Auswirkungen es mit sich bringt, wenn man sie verlässt. Ist einem das klar, kann man dies aus strategischen Gründen tun: Scheinbar eine ausnutzbare „Schwäche“ anbieten und diese dann in eine „Stärke“ verwandeln.

GM Kernspecht hat es sich von Anfang an zur Aufgabe gemacht, seinen Schülern in der EWTO effiziente Selbstverteidigungsfähigkeit durch effiziente Unterrichtsmethoden zu vermitteln. Konsequent verbesserte er Kampftechniken und -prinzipien im Hinblick auf die sich im Laufe der Zeit wandelnden Bedürfnisse. Heutige WT-Schüler sind mit anderen SV-Situationen konfrontiert als ihre SiHings und SiJes in den 70er oder 80er Jahren. Ebenso entwickelte er Didaktik, Trainingsprogramme, Ausbildungsstandards stets weiter, woraus im Laufe der Jahrzehnte ein ganz anderes Leistungsniveau resultierte.

Da die olympischen Spiele gerade hinter uns liegen, fällt mir dazu ein passender Vergleich ein:
Im Netz konnte man in den letzten Wochen immer wieder Videoclips finden, in denen parallel gezeigt wird, welche Übungen Turner bei den olympischen Spielen in den 1960er Jahren bzw. heute demonstrierten. Der Unterschied ist exorbitant. Die besten Athleten von damals würden heute nicht einmal die Qualifikation für die Spiele schaffen. Das gilt für nahezu alle Sportarten.

Die Gründe dafür sind in einer stetigen Verbesserung und Weiterentwicklung auf allen relevanten Ebenen von Trainingskonzepten über Übungsgeräte, Motivations- und Mentaltraining, Ernährungswissen bis hin zu immer professionelleren Ausbildern, Trainern und optimaleren Trainingsstätten zu finden.

Permanentes Entwickeln und Forschen und stetiger Fortschritt sind auch für uns in der EWTO das oberste Ziel unseres täglichen Arbeitens. Manchmal scheint der nächste Schritt der Entwicklung im starken Widerspruch zum Bisherigen zu stehen. Auch hier hilft die Philosophie von Yin und Yang und dem großen Taiji-Prinzip weiter.

Schöne restliche Sommertage wünscht euch aus Heidelberg
Euer Andreas Groß