Vom Sprechen und Kämpfen
Ein Dialog zwischen einem, der Kämpfen lehrt, und einem, der darüber schreibt, über einen altbekannten und von WT-Lehrern noch immer gern genutzten Vergleich: Man erlernt WT, wie man eine Fremdsprache erlernt.
Bei einem kleinen Spaziergang am Strand vom Unterricht zurück zum Hotel während des ersten Lehrgangs des Jahres auf Teneriffa kam das Gespräch mit SiFu auf eine Frage, die während des Unterrichts gestellt worden war.
Vielen WT-lern ist aus SiFus Standardwerk „Vom Zweikampf“ der Vergleich zwischen dem Erlernen von Sprache und dem des WingTsun bekannt. Grob zusammengefasst heißt es da, dass die SiuNimTau dem ABC und die ChamKiu einzelnen Wörtern entspräche, das ChiSao mit der Grammatik vergleichbar wäre und das LatSao einer einfachen Unterhaltung ähnlich sei.
Die Frage des Schülers an SiFu lautete nun: „Wie ist in diese Analogie das innere WingTsun einzuordnen?“ Nach kurzem Überlegen antwortete SiFu, dass, wenn man diesen Vergleich heranziehen wollte, das Üben der Solo- und Partnerformen dem Lernen der Grammatik nahekomme und das innere WingTsun die Syntax vermittle.
Ich meinte, dass die zusätzlichen Solo- und Partnerübungen der „Grammatik“ und ihren Konjugations- und Deklinations-Übungen entsprechen. Die klassischen Formen – SiuNimTau und ChamKiu – sind für mich aber auch Grammatik mit Grammatik-Regeln. Wenn ich mich meiner alten Sprachen-Studien erinnere, benutzen wir für den Bau von Satzgefügen mit Haupt- und Nebensätzen das Wort „Syntax“. Ich wollte nicht zwischen äußerem und innerem WT unterscheiden.
Während unseres Spaziergangs brachte SiFu das Gespräch noch einmal auf diesen Vergleich mit der Überlegung, ob denn in der Linguistik die Syntax eigentlich nicht ein Teil der Grammatik sei.
Ich meine, mich zu erinnern, dass das Deine Idee war. Aber ich kann mir vorstellen, dass Syntax in „Grammatik“ eingeordnet werden kann.
Und wenn man das berücksichtigen würde, welche Auswirkungen das auf den herangezogenen Vergleich zwischen dem Erlernen einer Sprache und dem des WingTsun hätte. Schon in seinem Buch „Vom Zweikampf“ schrieb er damals, dass der Vergleich „hinke“. Trotzdem sei es interessant, heute – nach 30 Jahren – erneut darüber nachzudenken. Ehe wir uns versahen, fanden wir uns inmitten einer Vielzahl von Fragen wieder, deren Antworten notwendig schienen, um hier eine zufriedenstellende Klarheit zu schaffen.
Klar waren jedoch zunächst nur zwei Dinge: Es wäre Recherchearbeit nötig, die die Dauer eines Spaziergangs definitiv überschritt, und ich würde systematisch vorgehen müssen, um alle relevanten Fragen zu beantworten.
Für mich eine überaus interessante Aufgabenstellung, denn Sprache und Kommunikation sind neben WingTsun seit bald 30 Jahren privat wie beruflich mein Steckenpferd. Also frisch ans Werk!
Mir erschien es logisch, folgende Fragen nacheinander zu beantworten:
- Wie lernt man eine neue Sprache?
- Wie lernt man neue Bewegungen?
- Welche didaktischen Konzepte gibt es jeweils?
- Wo liegen die Unterschiede?
- Wo gibt es Gemeinsamkeiten oder Analogien?
Würde ich die Antworten herausgearbeitet haben, dann ließe sich schließlich SiFus damaliger Vergleich in strukturierter Form so erweitern, dass er sogar für weitere Unterrichtsprogramme der EWTO anwendbar werden würde.
Und los ging’s!
Wie lernt man eine neue Sprache?
Dieser Frage geht man im Forschungsgebiet der „Sprachentwicklung“ nach, die ein Teil verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen ist: z.B. der Linguistik, der Entwicklungspsychologie oder der Didaktik.
Hier muss unterschieden werden, ob ein Kind intuitiv und teils unbewusst seine Muttersprache erlernt oder ob es um das Erlernen einer späteren Fremdsprache geht. Für unsere Fragestellung ist Letzteres relevant.
Was den Erwerb des iWT angeht, erscheint es mir nicht wie das Erlernen der Muttersprache, das wie Du schreibst, unbewusst ist. Nachdem ich jetzt mit Natalie wieder am Latein arbeite, erkenne ich Gemeinsamkeiten mit Latein.
Latein wird gemeinhin als tote Sprache gelehrt. Die Unterrichtsmethode ist dann Sezieren, Analysieren, grammatische Übungen, Übersetzen. Man hat dabei das (täuschende) Gefühl, dass Latein eine künstliche Sprache sei. Man muss beim Erlernen voll bei der Sache sein, also ganz konzentriert und bewusst.
1970 machte ich mein Großes Latinum und studierte u.a. Latein in Kiel. Und erst 2016 machte ich Bekanntschaft mit einer dänischen Naturlernmethode, wie man Latein wie eine lebende Sprache, ja wie die 1. Sprache, lernen kann – also ohne Übersetzen, Analysieren usw. – einfach durch Sprechen.
Will man das im iWT auch, dann muss das Medium die Berührung durch den Meister sein, die direkte Übertragung von Hand zu Hand, von Arm zu Arm. Dazu muss der Meister aber die Kunst des Übertragens beherrschen, den Schüler zu führen. Prof. Tiwald, der großartige Pädagoge, hat einmal für mich darüber einen Text geschrieben, der mir jetzt sehr nützlich ist.
Hat man solch einen echten Meister nicht ständig zur Verfügung – das Beste wäre in Form eines Bruders oder Vaters – muss man die Regeln, die Gesetze des klugen und mühelosen Bewegens erkennen und dann auch üben.
Wer iWT oder eine klassische innere Kampfkunst, die eine Umorganisation des Bewegens erfordert, von Kind an in der Familie „spielend“ erlernt, „kann“ das, aber er weiß nicht, worauf sein Können beruht, d.h. er kann es später nur durch „Handanlegen“ weitergeben. Denn für ihn, der die innere Kunst „als Muttersprache“ mitbekommen hat, ist diese Art des Sich-Bewegens „normal“, und er kann es nicht verstehen, dass nicht jeder sich so bewegt.
Es ist wenig verwunderlich, dass das Erlernen von Fremdsprachen einen eigenen Forschungszweig darstellt. Die „Fremdsprachenlehr- und -lernforschung“ befasst sich mit einer Vielzahl verschiedenster Faktoren, die als ausschlaggebend für das Erlernen einer Fremdsprache erachtet werden. Auch hier werden verschiedene Wissenschaftsbereiche berührt, wie z.B. die Kulturanthropologie, die Pädagogik, die Semiotik oder die Medienwissenschaften.
Und der Blick auf die Methodengeschichte des Fremdsprachenunterrichts zeigt vor allem eins: Es ist komplex!
Da wird unterschieden zwischen induktiven und deduktiven Methoden, werden Ansätze aufgeführt wie die „Grammatik-Übersetzungs-Methode“, die „audiovisuelle“, die „vermittelnde“ oder die „kommunikative“ Methode. Nicht uninteressant ist auch das Konzept vom „Lernen durch Lehren“.
„Lernen durch Lehren“ ist eine super Selbst-Lern-Methode gerade für iWT: Man ist gezwungen, alle Regeln immer wieder laut zu formulieren und auch zu hinterfragen.
Eine eindeutige und einfache Antwort im Sinne von: „Das ist der neueste Stand der Forschung“, lässt sich hier nicht finden.
Fazit: Es gibt eine schier unüberschaubare Anzahl von unterschiedlichsten Theorien und Ansätzen, die sich ganz oder teilweise widersprechen, überschneiden oder ergänzen.
Da es nicht im Sinne der Ausgangsfrage war, eine Abhandlung über die Methodik des Fremdsprachenlernens zu verfassen, wandte ich mich der nächsten Frage zu.
Wie lernt man neue Bewegungen?
Wobei unser Problem noch größer ist, denn im iWT geht es nicht um „andere Bewegungen“, sondern darum, sich „anders zu bewegen“, zum Beispiel andere Muskeln als vorher für bestimmte Aufgaben zu benutzen.
Wenn die Chinesen solche Art sich zu bewegen dann „natürlich“ nennen, obwohl wir sie mühevoll verstehen und erlernen müssen, kommen wir uns fast verspottet vor. Aber unter „natürlich“ versteht man hier nicht, was jeder von Geburt an macht, sondern wie man sich nach den ungeschriebenen Regeln der menschlichen Natur bewegen müsste, wenn man mit geringstem Einsatz die größte Wirkung erzielen will.
Die Bewegungswissenschaft beschäftigt sich mit der Erforschung der Bewegung von Lebewesen, insbesondere des Menschen. Sie ist Teildisziplin verschiedener anderer Wissenschaften – wie z.B. der Sportwissenschaft, der Biologie, der Psychologie oder der Pädagogik. In der Bewegungswissenschaft selbst haben sich hauptsächlich vier Betrachtungsweisen durchgesetzt: die biomechanische, die ganzheitliche, die funktionale und die fähigkeitsorientierte.
Darüber hinaus hat die Bewegungswissenschaft ihrerseits eine Reihe von Teildisziplinen hervorgebracht – wie z.B. funktionelle Anatomie, Biomechanik oder Bewegungslernen.
In letzterer wird das Lernen von Bewegungsabläufen beispielsweise im Sport, aber auch das Verbessern derselben in der Physiotherapie erforscht. Dabei werden einerseits die Funktionen und biologischen Grundlagen untersucht, andererseits verschiedene Modelle entwickelt, die das Bewegungslernen durch gängige Lerntheorien – wie z.B. Behaviorismus, Kontrolltheorie oder die Theorie der Informationsverarbeitung – erklären sollen.
Und auch hier: Die Komplexität der verschiedenen Forschungsrichtungen und -ergebnisse erschlägt einen schier. Sie bauen aufeinander auf, beweisen und widerlegen sich, führen fort und wieder zurück. Selbst ausgewiesene Fachleute dürften Schwierigkeiten haben, den Überblick zu bewahren.
Nach diesen (nicht) gewonnenen Erkenntnissen folgte, was folgen musste: Im Bereich der Didaktik wurde es nicht einfacher.
Welche didaktischen Konzepte gibt es jeweils?
Auch die Frage nach didaktischen Konzepten eröffnet einen riesigen Raum von gesammelten Wissen gleichsam einer gigantischen Bibliothek, in der die Forschungsergebnisse von Generationen von Wissenschaftlern geordnet sind. Da ist die Rede von bildungstheoretischer und kritisch-konstruktiver Didaktik, lerntheoretischer, informationstheoretisch-kybernetischer oder konstruktivistischer Didaktik. Und hier wäre noch lange nicht Schluss: Hinter jeder einzelnen stecken interessante Ideen und Ansätze.
Gleichwohl – DIE eine, die alles ein für alle Mal erklärt, findet man nicht. Zumindest konnte ich sie selbst nach etlichen Stunden Literaturrecherche nicht ausfindig machen.
Nach einigen Tagen intensiven Studierens hatte ich noch keine einzige meiner selbst gestellten Fragen zufriedenstellend beantwortet. Obwohl meine geplante Vorgehensweise auf den ersten Blick so logisch und vielversprechend aussah, wurde nur eines klar: So komme ich nicht weiter!
Also, noch einmal ganz von vorn!
Ich nahm mir wieder SiFus „Vom Zweikampf“ zur Hand und las die Originalstelle: „Wie man WT lernt?“. Beim Lesen schaute ich noch einmal, wann er das geschrieben hatte – 1987 war die erste Auflage erschienen.
Jeder Text muss in seinem historischen Kontext betrachtet werden, wenn man ihn einordnen will. Also schlug ich in SiFus jüngsten Bücher nach, um eventuell Hinweise oder Querverbindungen zum 30 Jahre alten Vergleich zu finden. Dabei fiel mir eine Stelle aus dem „Kursbuch – Inneres WingTsun“ ins Auge: „Die Reihenfolge der Architektur des WT“. In Kurzform skizziert SiFu hier, was er bereits in „Kampflogik“ ausführlich erläuterte. Auf Grundlage der Clausewitzschen Methode der strategischen Planung baute er das Konzept einer zielführenden WT-Unterrichtsmethode auf. Dabei bestimmt der Zweck die Ziele, die Ziele die Strategie, die Strategie die Taktik und die Taktik die benutzte Bewegung. Daraus entwickelte SiFu schließlich die „Großen Sieben Fähigkeiten“, um dann letztendlich nach über 55 Jahren Forschungsarbeit im Inneren WingTsun alles auf die reine Funktion hin auszurichten.
Richtig, aber nicht die übliche „Funktion“ im Sinne von „Aufgabe“, sondern die Frege'sche, die mir Horst Tiwald ans Herz legte und die ich im „Kursbuch“ erkläre.
Und nun schloss sich für mich der Kreis und ich konnte endlich den alten Vergleich zwischen dem Erlernen einer Sprache und dem des WT so erweitern, dass er – wie anfangs geplant – sogar für weitere Unterrichtsprogramme der EWTO anwendbar wird:
Es dürfte kein Zweifel bestehen, dass durch den „State of the Art“ (= in Jahrzehnten und Jahrhunderten gesammeltes Wissen) sowohl in der Sprachwissenschaft als auch in der Wissenschaft des Kämpfens, der Combatologie, die besten Ergebnisse aller Zeiten mit Blick auf deren jeweilige Zwecke erzielt werden.
Der Zweck unseres Lernens im WT ist in erster Linie die Selbstverteidigung. So wie der des Erwerbs einer neuen Sprache die Kommunikation ist. Es gibt eine Vielzahl von Theorien, Konzepten, Methoden und Übungen, die im Laufe von Jahrzehnten Eingang in das Curriculum der EWTO fanden und diesen Zweck verfolgen. So wie sich in der Sprachwissenschaft unzählige Ideen und Ansätze sammelten. Hier wie dort haben alle ihre Berechtigung: „So lang dabei die Funktion aufleuchtet“, wie SiFu in seinem „Kursbuch“ betont.
Wobei ich anführen muss, dass der „Zweck“, zu dem man etwas erfindet, nicht der Hauptzweck bleiben muss. Die blauen Pillen, die jeder kennt, aber keiner benutzt, waren z.B. ursprünglich als Mittel gegen Angina Pectoris gedacht; Zen (oder Chan) war als Lehre der Achtsamkeit entwickelt worden und verhalf dann den japanischen Samurai und den chinesischen KungFu-Kämpfern zu Kaltblütigkeit und Furchtlosigkeit im Kampf.
Die innere Kampfkunst, die Boddhidarma (Ta Mo) im Shaolin-Kloster ins Leben rief, hatte ursprünglich nicht den Zweck, die Mönche das Kämpfen zu lehren, sie sollte sie während der Meditationen „wach halten“, d.h. ihnen Energie geben.
In ähnlicher Weise benutzen jetzt gewisse chinesische Lehren der Achtsamkeit das Kämpfen, um zu testen, ob der Schüler auch beim stressigen Kämpfen noch „bewusst“ sein kann. Hier ist dann das Kämpfen nur Mittel zum Zweck. Dennoch macht es Sinn, gerade eine solche Kunst zu erlernen, denn sie bereitet in idealer Weise auf eine Notwehrsituation vor.
Die Ähnlichkeit zwischen Sprache, Dialog und dem Kämpfen liegt im iWT und im Zweikampf sozusagen auf der „Hand“. Unsere Hände sind unsere Werkzeuge, wir kämpfen und wir unterrichten auch mit ihnen.
Insofern spiegelt die Entwicklung der WT-Lernmethoden die der Sprachwissenschaften wider: Nämlich, dass komplexe Probleme komplexe Lösungen erfordern!
GM K. R. Kernspecht
Markus Senft