Editorial

Kommen die Bewegungen, mit denen wir kämpfen, aus der Form?

Im äußeren *ing *un macht man es sich leicht und vergreift sich am Naheliegenden: an den Formen bzw. an den darin enthaltenen Bewegungen.

Wenn man das gesamte Bewegungsgeschehen, den Ablauf einer Form in immer kleinere Einheiten zerlegt, kann man durch sezierendes Freilegen zu einzelnen Bewegungen gelangen, die man dann separat und kontextunabhängig einübt, wodurch sie zu „Techniken“ werden.

Man schafft sich also einen Vorrat an Lösungen („Techniken“) an, mit dem man hofft, eine plötzlich auftretende Angriffssituation lösen zu können.

Auf den Punkt gebracht, könnte man sagen, man legt sich eine Anzahl Standard-Antworten zurecht und bimst sie sich ein, in der naiven Erwartung, dass der Gegner mit seinem Angriff netterweise eine Frage stellt, zu der wir uns eine Antwort eingeschliffen haben.

Dabei gehen die meisten Kampfkünste zu allem Unglück auch noch von ihren eigenen, (eigentümlichen) Angriffen aus, mit denen uns auf der Straße kein Schläger angreift, weil er sie nicht kennt.
Oder sie stellen ihr Training auf Angriffstechniken ab, die vielleicht vor ein paar hundert Jahren in einer bestimmten Gegend Asiens von den Kampfkunststilen der Nachbarschaft benutzt wurden, hier bei uns im Westen aber nicht gebräuchlich sind.

Und selbst wenn die einstudierten Antworten mit den zur Zeit gängigen Angriffen zu tun hätten, würde das uns nicht viel helfen, denn nicht nur die Bewegungswissenschaftler wissen, dass es in der Realität nie zwei identische Bewegungen geben kann. (Nicht einmal derselbe Angreifer könnte seinen Angriff exakt wiederholen). Das heißt, selbst falls der Angreifer uns mit der Technik angreift, auf die wir uns in der Schule vorbereitet haben, wird die Bewegungs-Frage nicht zu unserer Bewegungs-Antwort passen.

Welchem Lehrer ist das noch nicht passiert: Eben haben wir einen Schüler wie im Bilderbuch abgewehrt und wollen nun diese Bewegungs-Antwort stolz der erwartungsvollen Klasse zeigen. Aber die Vorführung misslingt, denn unser „Gegner“ kann kein zweites Mal in genau derselben Weise angreifen. Deshalb habe ich mir solch ein Verfahren schon vor Jahrzehnten abgewöhnt.

Jede lebendige Bewegung ist einmalig!

Auswendig gelernte Antworten versagen aber nicht nur deshalb, sondern weil wir gespeicherte Antworten nicht schnell genug aufrufen können. Sie fallen uns meist erst zu Hause ein, wenn längst alles vorbei ist.

Wir Männer kennen das vom Flirten. Zu Hause geistreiche Sprüche auswendig zu lernen, um damit bei der Dame vor Ort zu punkten, klappt nicht. Dann sitzt man wie ein steifer Tölpel rum, trägt nicht zur Unterhaltung bei, sondern wartet nur auf den geeigneten Augenblick, wo man seinen klugen Spruch mit Gewalt reinquetschen kann.
Schlagfertigkeit und harmonischer Smalltalk geht anders.

Hier schlägt dann in der „kämpferischen“ Kommunikation die Stunde der Muckis: Mit Gewalt kann man manchmal eine Technik („Antwort auf Vorrat“), die nicht wirklich passt, „passend machen“.
Dass das dann eher ein „Krampf“ ist als ein Kampf, liegt auf der Hand. Von Mühelosigkeit, Leichtigkeit und Eleganz keine Spur. Dafür muss man keine Kampf-Kunst betreiben.

Es ist eine verbreitete Fehleinschätzung, dass wir die Formen und deren Bewegungen lernen, um sie im Kampf zur Anwendung zu bringen.
Dass z.B. die 1. Form kein Fundus an Techniken gegen heute auf der Straße zu erwartende Standardangriffe sein kann, ist offenbar. Diese Bewegungsform steht am Anfang der Ausbildung eines Anfängers, der seine Tasse leeren und noch einmal ganz von vorn anfangen soll, falls er vorher einen anderen Stil betrieben hat. Die SNT soll ihm – entgegen der Auffassung im äußeren *ing *un – nicht Bewegungen beibringen, mit denen er kämpfen soll, indem er sie anwendet.

Die SiuNimTau – insbesondere ihr Kernstück, der langsam auszuführende 3. Satz – soll ihm nach chan(zen-)buddhistischer Auffassung beibringen, wie er WT lernen kann.

Es geht hier darum, dass er aufgrund von Selbstbeobachtung, von zunächst äußerer (visueller) und dann innerer (seinen Muskelsinn beobachtend), sein eigenes Bewegen differenzierend versteht und sich dann später in die Bewegungen des vormachenden Lehrers „hineinversetzen“ kann. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Für heute wollen wir festhalten, dass es nicht darum geht, die Idealbewegungen der Formen zu lernen, um damit zu kämpfen.
Merken wir uns den Satz, den mich mein SiFu lehrte: „Der Könner wendet nicht die Techniken an, sondern die Prinzipien.“

Und Könner wollen wir doch alle werden.

Liebe Grüße
Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht
 

PS: Mit welchen Bewegungen wir im WT wirklich kämpfen?
Das verrät uns das „Kurs-Buch – Inneres WingTsun“ auf den Seiten 27 bis 28 (Ringbuch, 2. Auflage), in der Luxusausgabe des Kurs-Buches auf den Seiten 52 bis 54.