Editorial

Das Berührungs-Reflextraining der „Klebrigen Arme“

Warum das Berührungs-Reflextraining der „Klebrigen Arme“ das ideale Training für Selbstverteidigung ist, erläutere ich Euch im nachfolgenden Editorial. Beim Osterlehrgang in Großwallstadt bei Frankfurt a.M. konntet Ihr es selbst ausprobieren, denn dort unterrichtete ich es. Hier veröffentliche ich zur Vertiefung schon einen Auszug aus meinem kommenden Buch über das Berührungs-Reflextraining „ChiSao“:

In der Selbstverteidigung ist das Erkennen der Situation und ihrer innewohnenden Gefahr (aber auch ihrer Chancen für uns) das Wichtigste.
Dazu müssen wir hellwach sein und unsere Sinne bewachen, die uns pro Sekunde 12 Millionen bits melden, davon 10 Millionen über die Augen.

Aber wir gehen im Halbschlaf durchs Leben und werden nur aufmerksam, wenn unsere Achtsamkeit schon auf bestimmte Merkmale geeicht ist. Sonst müssen wir uns durch den Schmerz des ersten Schlages – der der letzte sein kann – aufwecken lassen.

Um erst noch bevorstehende Gefahren und Bedrohungen, die hinter der nächsten Ecke, verdeckt von dem parkenden Van auf uns lauern, vorher zu erkennen, ist der Sehsinn not-wendend, im Sinne von die „Not abwendend“.

Laienhaft könnte man zu der Ansicht kommen, dass die Augen, die dichter am Gehirn dran sind, eher Denkvorgänge wie Planen und Problemlösen bewirken als Arme, die erst durch unmittelbar den Gegner begreifen müssen, bevor sie be-greifen. „Sehen“ wird in den verschiedenen Sprachen im Sinne von „verstehen“ benutzt: „Wie siehst du das denn?“ oder im Englischen „I see.“ (= Ach so.) Wie dem auch sei, das Erkennen mit den Augen kann uns im Vorfeld ersparen, in manche Falle zu laufen.

So kann ein Boxer mit langen Armen (wie die Klitschkos) den Gegner systematisch auf Abstand halten und die Angriffs-Flugbahn (engl. trajectory) durch Extrapolation ganz gut kalkulieren, um nicht überrascht zu werden.

Bei Kampfsportarten wie Boxen, Karate, Stockkampf usw. sind es tatsächlich hauptsächlich die Augen, die uns über die bevorstehende Gefahr informieren.

In der Selbstverteidigung – insbesondere bei plötzlichen Überfällen – können uns die Augen aber nicht mehr vor der unmittelbaren Gefahr warnen, dafür aber die berührte Haut, Faszien, Muskeln usw. Ähnliches gilt zum Teil für Ringen, Judo, Sambo.

Bekanntlich sind die Muskeln unser größtes Wahrnehmungsorgan und sie nehmen direkt wahr: Was man fühlt, ist tatsächlich da! Muskeln können kaum „falsch-nehmen“.

Es gehört zum Wesen des Überraschungsangriffs hinter dem ahnungslosen Opfer zu sein, in seiner Flanke, in seiner blinden Seite. Umso weniger Gegenwehr muss der Angreifer erwarten.

Bei einem fairen Kickbox-Kampf ist das anders: Man fixiert das „Dekolleté“ des Angreifers und sieht peripher auch seine Hände und Füße. Oder man sieht bei einigen Thaibox-Stilen auf die gegnerischen Füße und nimmt dabei peripher zusätzlich die Hände wahr.
Deshalb ist das übliche Sparring, das vom Sehsinn bestimmt ist, für Boxen und Kickboxen die passende Vorbereitung.

Aber nicht für Überraschungsangriffe!

Während die Augen nur nach vorn schauen können und auch dort nur etwas erkennen können, wenn es nicht zu dicht an uns dran ist – wie es z.B. im Clinch der Fall ist, kann der taktil-kinästhetische Sinn (Muskelsinn) in alle Richtungen fühlen, tasten, spüren. Auch im Dunkeln und wenn uns Blut die Sicht erschwert. So wird man beim Überfall oft noch im allerletzten Moment gewarnt, wenn man gelernt hat, diesen Sinn zu beachten.

Der (ganzkörperliche) Tast- und Muskelsinn, den ich auch „Gestänge“ nenne, ist schneller und dabei schwerer zu täuschen als der Sehsinn. Aber im Sparring hat man ja auch mehr Zeit, wenn man nicht gerade im Nahkampf (z.B. Clinch) ist.

Bösewichter wollen ihren Opfern aber keine Zeit zur Verteidigung geben, deshalb vermeiden sie die typische Sparrings-Entfernung. Stattdessen kommen sie überraschend von hinten oder von vorn und wenn möglich benutzen sie Ablenkungsmanöver wie ein Zauberkünstler.

Wer in Tuchfühlung mit dem Gegner trainiert ist, hat selbst noch eine gute Chance abzuwehren und reaktionsschnell zurückzuschlagen, wenn seine Augen im Vorfeld nichts sahen oder seine Aufmerksamkeit abgelenkt war.

Mit Fühltraining gibt man seinen Armen Augen und macht seinem Gegner Beine!

Mit diesen „Sehenden Armen“ kann man fast hellseherisch die Absicht des Gegners erkennen, während dieser noch in der Angriffsvorbereitung ist.
Es ist auch sinnvoll, sich in einigen Phasen des Fühltrainings die Augen zu verbinden.

Damit das Training der „Klebrigen Arme“ aber optimal gegen Überfälle schützt, darf es nicht nur Fähigkeiten entwickeln, die uns vor dem bevorstehenden oder gerade begonnenen Angriff bloß warnen. Die Berührung des Gegners muss uns auch (ohne, dass er das beabsichtigt!) unmittelbar in Sicherheit bringen.

Aber auch das reicht noch nicht. Sein Bewegungsdruck in Verbindung mit unserem soll uns idealerweise in seine Flanke oder noch besser hinter ihn bringen. Dazu ist es notwendig, dass mittels des oben genannten „Gestänges“ die vom Gegner über den Ort der Berührung zu uns kommende Kraft unmittelbar unsere Wendung oder unseren Schritt in seine Flanke bewirkt.

Das „Gestänge“ muss aber auch in die andere Richtung wirksam werden können: Bei Fühlungsaufnahme können wir direkt vom Ort der Berührung eine Kraft durch seine Gelenke zu seinem Massezentrum aussenden, die sein Gleichgewicht so stört, dass er unseren Gegenangriff hinnehmen muss.

Oft hört man heute die Meinung, chinesische Stile seien weniger für den Kampf geeignet, weil sie selten an MMA-Turnieren teilnehmen und dann zudem selten erfolgreich. Wenn man unter „Kampf“ Wettkampf versteht, trifft das zu. Aber die chinesischen Stile, (die – wie WingTsun, Gottesanbeterin, Weiße Augenbraue, Hsing-I – hauptsächlich mit taktil-kinästhetischen Methoden wie „Fühlenden Armen“ arbeiten, sind auf eine andere Art Kampf ausgelegt: auf die reine Selbstverteidigung.

Obwohl mein Kieler Team in den 1970er Jahren sich sogar gegen eine Boxmannschaft mit Handschuhen durchsetzen konnte, war das einverständliche Kämpfen nie mein Ziel. Forderte mich jemand zum Kampf heraus, schlug ich ihm deshalb lieber vor: „Lauer mir doch lieber irgendwo in einer dunklen Ecke auf und überfall mich!

Bei einem überraschenden, plötzlichen Angriff habe ich nur eine Chance, wenn ich ohne Überlegen blitzschnell reagiere. Die schnellste Reaktion erfolgt auf Berührungsreize und die Klebrigen Arme beruhen auf Berührungsreizen und operantes Konditionieren.

Dazu kommt, dass ich mit Niels Bohr der Meinung bin, dass die Aktion nicht immer schneller als die Reaktion ist, obwohl das allerorten behauptet wird, sondern dass das Gegenteil der Fall ist! Deshalb bin ich auch bemüht, wenn möglich meine Angriffe als Reaktionen auf externe Auslöser zu realisieren.

Ein weiterer bedeutender Vorteil besteht darin, dass der Stress-Hormoncocktail, der beim Bedrohten Bewegungslähmung auslösen kann, nicht schneller ist als der reflexartige oft dem Angriff noch zuvorkommende Rettungsschlag. Die zeitaufwendige Entscheidung, mit welcher „Technik“ man sich verteidigen will, wird durch die mittels Fühltraining konditionierten Reflexe ersetzt: Der Reflex schießt den zuvorkommenden Konterschlag heraus, bevor der Herzschlag die lähmenden Stresshormone zu unserem Gehirn gepumpt hat. Der Reflex ist schneller als die Angst!

Mit Berührungs-Reflextraining muss ich dem Schüler/der Schülerin nur fünf essenzielle „Reflexe“ einpflanzen, um gegen 95 % oder mehr aller möglichen Angriffe gewappnet zu sein!

Dennoch hat das Berührungs-Reflextraining Grenzen:

  1. Um die höchsten Weihen der Kampfkunst zu erlangen, muss man sich am Ende auch von Reflexen und Automatismen befreien und in allem vollbewusst agieren.
    Bis dahin lernen wir zwar bewusst, aber im Echtkampf reagieren wir noch auf Berührungsreize – meist ohne hinterher zu wissen, was wir gemacht haben.
  2. Obwohl nach meiner Erfahrung das Training der „Fühlenden Hände“ die beste Vorbereitung auf Überfälle ist, darf das Sparring mit Schlagkrafttraining und die Verteidigung am Boden mit schnellem Aufstehen nicht vernachlässigt werden, denn man kann auch in das, was ich „Ritualkampf“ nenne, hineingezogen werden oder man sieht sich von mehreren Gegnern umgeben. Hier werden schließlich wieder die Augen wichtig und die Ausdauer und das Einsteckvermögen.

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht

Fotos: mg/hm