Editorial

„Schere, Stein, Papier“

„Chuan Fa“ soll, buchstäblich übersetzt, „ein Spiel mit den Armen“ bedeuten, und es gibt keinen besseren Vergleich zu unserem WingTsun als das bekannte „Schere, Stein, Papier“-Spiel aus Asien:

Die Schere kann das Papier besiegen, indem sie es zerschneidet. Am Stein aber würde sie sich die Zähne ausbeißen. Der Stein wiederum besiegt die Schere, aber verliert gegen das Papier, das ihn buchstäblich „einwickelt“.
Absolut gesehen, verleihen also weder Schere, Stein noch Papier in jedem Falle Überlegenheit. Es gibt nicht die eine allen anderen überlegene Einzeltechnik. Es kommt immer darauf an.

Vielen Kampfkünstlern passt diese relativierende Lebensweisheit nicht in den Kram und sie erfinden sich ihre eigene Wirklichkeit. Jarmo, der Sohn von Sifu Frank Schmalz aus Kiel, suchte mit seinen Freunden nach noch Stärkerem. So kamen zunächst „Feuer“ und „Regen“ dazu. Aber die Kids merkten bald, dass sie nachrüsten mussten und so erfanden sie sich (wohl inspiriert von der europäischen Zeichentrickserie „Oggy und die Kakerlaken“) die Über-Waffe, das „Oggy-Hörnchen“.

Wenn man zehn Jahre alt ist, darf man noch von der ultimativen Technik, die alle anderen schlägt, träumen. Wir Frühergeborenen wissen, dass die Welt nicht so ist, wie wir sie gerne hätten und dass „Schere, Stein, Papier“ den wahren Verhältnissen näher kommt.

Gewisse Experten messen nun Bong, Tan, Fook (den sog. „Samen des WT“) die Rolle von Schere, Stein, Papier zu. Aber besiegt Fook den Bong? Schlägt Tan den Fook? Und was sollte im Kampf gegen Bong den kürzeren ziehen? Doch wohl nicht etwa Tan?
Und was soll dieses oberflächliche fixierte Blicken auf tote Positionen, wenn ein wirklicher Kampf dynamisch ist und ein Prozess, der sich unplanbar durch die Interaktion mit dem Gegner ergibt?

Letztlich muss alles, was man als Vergleich zum WingTsun heranzieht, hinken.
Unser Schach zum Beispiel:

Während die Gegner bei „Schere, Stein, Papier“ zumindest gleichzeitig ihre Karten auf den Tisch legen müssen, haben die Schachpartner viel Zeit zum Denken, nachdem der Gegner seinen Zug gemacht hat.
In der Hitze des Kampfes um Leben und Tod kann man nicht wie im Schach mehrere Züge vorausberechnen. Und zum Glück braucht jemand, der sich die WT-Reaktionen einverleiben ließ, überhaupt kein Gedächtnis und keine Planung, da er nur auf den gerade vom Gegner gemachten Zug eingeht, sich ihm anpasst und ihn ausbeutet.
Weiterhin besteht im Schach Zugzwang, während der kluge WT-Kämpfer oft gerne auf blinden Aktionismus verzichtet, damit der andere nicht daran gehindert wird, in seine Niederlage zu rennen.

Wenn ein Spiel ein wenig mehr Ähnlichkeit mit WT hat, dann wohl das Go, das wie Karate, Taekwondo, Sumo und Ju-Jutsu ursprünglich aus China kommt und dort „Weiqi“ (Umzingelungsspiel) heißt. Weiqi oder Go ist indirekter als Schach, nach dem Motto, dass der Umweg oft schneller zum Ziel führt als die Gerade.

Mein leider zu früh verstorbener Meisterschüler Thomas Roggenkamp aus Hamburg war ein fortgeschrittener Go-Spieler und wies in seiner schriftlichen Prüfungsarbeit auf Parallelen zwischen Go und WT hin, die nur den verblüffen, der sich nicht darüber im Klaren ist, wie weit das taoistische Denken bis in den letzten Lebensbereich eingeflossen ist. So hat Go z.B. kein klar definiertes Ziel, sondern es geht darum, seinen Einfluss auf das Gebiet des anderen zu erstrecken. Den Gegner schachmatt zu setzen, also im Clausewitzschen Sinne zu zerstören, ist auch nicht das Anliegen im Go, man will ihn gleichsam unterwandern und seine Ressourcen ausnutzen. Go ist nicht frontal und direkt, sondern es beginnt schon weit im Vorfeld, geht Umwege und ist klar als überlegene, indirekte Kriegsführung einzuordnen.

Aber auch beim Go-Spiel gibt es Bedenkzeit und wie beim Schach fehlt es am Element, in dem der Kämpfer schwimmt: am plötzlichen (!) Adrenalin, das unsere Knie zum Zittern bringt, uns wie durch eine Röhre blicken lässt und unser Denken blockiert.

Unser Heil in der Arena der Straße liegt nicht in vorhergeplanten Kombinationen. Selbst Bong, Tan und Fook sind nur schöne Positionen. Ein Kampf ist nicht so statisch, wie wir ihn gerne hätten, sondern ein interaktiver Prozess. Und unser Gegner hält sich an keine Sequenz und wartet nicht, bis wir mit unserer Technik fertig sind.

Nur mit unter Adrenalin-Wirkung eingepflanzten anpassungsfähigen und überraschenden Automatismen sind wir aus dem Schneider.

Wer sein Heil auf das „Oggy-Hörnchen“ setzt, wird auf dem Bauch landen und wird von den gefräßigen Kakerlaken verputzt.