Editorial

„Ich erfinde WT bei jedem Unterricht wieder neu!“ – Interview statt Editorial erster Teil

Womit beschäftigst Du Dich zur Zeit?

Grundsätzlich mit demselben Problem, das mich seit Ende der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts umtreibt: Wie kann man sich mit möglichst wenigen Bewegungen verteidigen? Oder besser durch die Art seines Bewegens überhaupt.

 
    Markus Senft interviewte GM Kernspecht für die WTW online
 

Und um das herauszufinden, brauchtest Du mehr als 55 Jahre?

Ja, denn es gab keinen Stil, der das beibringen konnte oder wollte. Ich übte mich, wie Ihr wisst, im Ringen, Judo, Ju-Jitsu, Karate, Aikido, Kempo, Hapkido, Taekwondo, Escrima, Wing Chun, Ving Tsun, WingTsun. Aber keiner dieser Stile lehrt Selbstverteidigung. Shotokan-Karate lehrt Shotokan-Karate, Ju-Jitsu lehrt Ju-Jitsu, Wing Chun lehrt Wing Chun.

Du meinst, jeder Stil sitzt in seinem Elfenbeinturm und schaut nicht raus auf die Straße, was da wirklich abgeht? Und was ist mit den modernen Mixed Martial Arts?

Die schauen auch nicht auf die Straße, die schauen auf den Ring. Ich mag den MMA-Sport! Es gibt inzwischen einige Reality-Video-Clips, die zeigen, wie erschreckend naiv und wenig street-smart MMA-Sportler sich in der Welt da draußen verhalten.

Du meinst, auch die betreiben keine Selbstverteidigung?

Wie Bruce Lee schon richtig feststellte: Alle machen nur etwas, das mit Selbstverteidigung am Rande zu tun hat.
Lass‘ es mich mit einem Wortspiel auf die Spitze treiben: In all den 55 Jahren meines unentwegten Lernens und Studierens hatte ich nicht den Eindruck, dass es darum ging, mich zu unterrichten. Alle wollten nur ihren Stil unterrichten.
Aber jeder Stil, selbst der beste, liefert nur Teilwahrheiten. Aus seiner Sicht scheint alles logisch. Aus der Sicht eines anderen Stils aber auch. Betrachte ich mir die wenigen wirklich funktionierenden asiatischen Kampfstile, so macht die gegenteilige Auffassung einer gegebenen oft genau so viel Sinn! Dennoch glauben die Anhänger fast religiös an ihre eingeimpfte Teilwahrheit.

Was sind denn nun funktionierende Stile?

Stile, die auf die Funktion schauen. Bei denen Funktion zuerst kommt und dann die Form. Form follows function! Leider beginnt bei den meisten Stilen alles mit der Form (Kata). Und meistens hört es damit auch auf. Dazwischen gibt es dann meist phantasievolle und straßenunerfahrene Erklärungen der Formbewegungen und an den Haaren herbeigezogene Anwendungen (Bunkai).
Der neue Schüler will lernen, sich zu verteidigen, und alles, was er bekommt, sind Formen.

Ist es im WingTsun nicht ähnlich?

Traditionsgemäß ist es wohl so. Aber wie mein Lehrer Leung Ting schon schrieb, bedeutet Tradition: „Nichts wurde verbessert!“
WingTsun beginnt mit der SiuNimTau-Form (SNT), aber hier geht es in erster Linie nicht um Technikenlernen, sondern um Mentaltraining. Das Training der Achtsamkeit, der Vorstellungskraft, Und zwar in einem scheinbar unbewegten Stand. Obwohl es im aufgeklärt sein wollenden Hongkong wenige aussprechen oder noch wissen, geht es um die Entwicklung der mysteriösen Jin-Kraft, um das Verknüpfen von Verbindungen zwischen den Körperteilen, um das Anbahnen der harmonischen Körpereinheit, dazu gehört auch die Atmung, über die wir im WT in diesem Stadium nicht wirklich sprechen, da sie sich automatisch anpasst.

Aber in der SNT gibt es doch auch Bewegungen zu lernen.

Ja, aber erst in zweiter Linie. Aber erkläre das bitte mal dem Schüler! Und was wäre wohl, wenn ich ihn bewegungslos 30 Minuten nur im speziellen Stand der SNT (IRAS) stehen lassen würde?

Dann hättest Du hier nicht an die 60.000 Schüler!

Ja, vielleicht war das der Grund, weshalb die Meister vor uns Armbewegungen hinzugefügt haben. So wird es für die Anfänger interessanter; denn gerade Neulinge schauen immer auf die Arme. Hier erwarten sie Bewegungen. Dieses Erwartungsdenken muss man wohl erfüllen, wenn man nicht allein in seiner Schule stehen will. Gerade das Stehen, das, wenn man so will, Meditieren im Stand, ist das Wichtige, die Armbewegungen sind der Zuckerguss darauf, um die bittere Medizin (das Stehen) zu ertragen. Das Stehen ist der erste Hinweis darauf, dass WingTsun, nach Meinung von GM Yip Man ein ursprünglich nördliches System, als ein sog. innerer Stil angelegt ist.

Ein innerer Stil, so wie Tai Chi, Pakua, Hsing-I?

Ja, man erkennt das schon am Aufbau: Stehen, wenige Bewegungen, eine Art ChiSao-Training, Kampf basierend auf Situationswahrnehmung und taktil-kinästhetischer Ausbildung, Benutzung raffinierter, statt primitiver Kräfte. Klar formulierte Prinzipien. Am Anfang die Entspannung. Und die Kraft kommt aus den Beinen und dem Rumpf und wird über die Arme auf den Gegner übertragen.

Aber in der SiuNimTau merkt man davon (noch) nichts, da bewegen sich doch nur die Arme.

Man beginnt, konfuzianistisch Fehler vermeiden wollend, beim Kleinsten, dem von der Zentralachse Entferntesten. Dann geht es mit der 2. Form (ChamKiu) immer dichter an die Zentralachse an die Quelle der Kraft, um bei der 3. Form anzugelangen, beim für mich wahren WingTsun. Hätten Ng Mui und Yim Wing Tsun bei Prof. Tiwald Sport- und Bewegungswissenschaften studiert, hätten sie das Pferd anders aufgezäumt. Von vorn! Und sie hätten auch den Mut gehabt, ihre Schüler Fehler machen zu lassen, denn so lernt man schneller und es bleibt mehr hängen.

Es ist Dir offenbar ein Bedürfnis, neue Impulse in den Unterricht zu bringen.

Ich fühle mich in der Pflicht, zu Lebzeiten, ein Umdenken anzubahnen. Das kann nur langsam gehen. Ich finde mich in der kuriosen Situation, manchem zu widersprechen, was ich in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts, ohne zu hinterfragen, nachplapperte. Das WingTsun, so wie es in Europa betrieben wird, egal wie es geschrieben wird, ist auf meinem „Mist“ aufgebaut. Wenn ich es jetzt besser weiß und anders darstelle, greift man mich mit meinen eigenen uralten Thesen an. Offenbar traut man mir nicht zu, nach so vielen Jahren und nachdem ich vor 13 Jahren als erster Schüler meines chinesischen Meisters den 10. Grad eines Großmeisters von ihm erhielt, noch dazulernen zu können.

Aber vielleicht wollen einige Leute auch selbst nicht mehr dazulernen und haben dicht gemacht.

Gut möglich. Es muss auch schrecklich für jemand sein, der vor Jahren eine Meister-Urkunde von mir erhielt und nur noch ein paar Sätze Messerform brauchte, um seiner Meinung nach „durch“ zu sein, die Dinge noch einmal auf andere Weise sehen zu müssen. Ein SiFu wie ich, der jeden Tag WingTsun neu erfindet und alles auf die Prinzipien aufbaut und alles mit ihnen erklärt, ist für manche eher eine Qual als ein Segen. Es tut mir leid, aber ich kann nicht anders.

Du bist ein ewig Dazulernender. Um WT besser zu verstehen, bist Du noch einmal zur Uni gegangen.

Und ich habe meine Schüler und Kampfkunstkollegen mitgeschleppt. Sehr viele haben jetzt ihren Bachelor, Magister und einige den Doktor gemacht.
Seit den 1990er Jahren arbeite ich mit mehreren bulgarischen Universitäten zusammen. Mein Freund, Prof. Dr. Margaritov, der ehemalige Sportminister, unterstützt mich in wunderbarer Weise.

In ähnlicher Weise arbeiten wir mit der englischen Universität in Derby/Buxton zusammen. Mit den Engländern führen wir zur Zeit ein Fernstudium mit zwei Wochen Präsenzpflicht in „Theorie & Praxis der Kampfkunst“ durch. Mit den Bulgaren eines in „Theorie & Praxis des WingTsun“. Das englische Studium erfordert kein Abitur, aber einen akademischen Coaching-Lehrgang, das bulgarische setzt den Bachelor oder Vergleichbares voraus. Es wird Anfang 2014 beendet sein, so dass wir neue Kandidaten aufnehmen können. Für Neue, die am englischen Studium teilnehmen wollen, gibt es bald wieder neue Coaching-Lehrgänge.

Stimmt es, dass Du für das Uni-Studium die sog. Inneren Stile Pakua, Hsing-I, Tai Chi Chuan erlernt hast?

Erlernt stimmt nicht, denn ich hatte bisher nur fünf Intensiv-Wochen dafür Zeit. Aber ich habe sie studiert und meine, sie und ihre Prinzipien ein gutes Stück verstanden zu haben. Alte, erfahrene nordchinesische Meister (meist Professoren) halfen mir dabei ohne Geheimniskrämerei. Wir haben auf Augenhöhe miteinander verkehrt.

Wie kamst Du auf diese Idee und woher hast Du die Kontakte?

Das geschah alles auf Anregung meines Mentors Prof. Dr. Horst Tiwald. Diesem Manne verdanke ich mehr, als ich ausdrücken kann. Einer meiner ältesten Schüler schlug schon vor, ihn posthum und ehrenhalber zum 10. Grad zu ernennen und sein Bild unserer Ahnentafel hinzuzufügen. Ich glaube aber, dass der bescheidene Horst Tiwald dagegen protestiert hätte. Er wollte nicht einmal, dass ich seine akademischen Titel bei Veröffentlichungen nenne. Auch da kann ich noch viel von ihm lernen.

Was willst Du im WingTsun eigentlich ändern?

Streng genommen gar nichts. An der WingTsun-Technik gar nichts. Auch nichts an den Soloformen. Dafür aber manches an der traditionellen Unterrichtsmethode! Dass unsere chinesischen Vorfahren so ein geniales Kampfsystem wie WingTsun entwickeln konnten, muss nicht, wie ich oft hörte, bedeuten, dass sie auch eine entsprechend geniale Unterrichtsmethode herausgebildet haben.
Ihre Pädagogik beruht auf Auswendiglernen, auf drillmäßiges Gewohnheitendressieren und -einschleifen. Das passt gar nicht zu ihrem Chan-Buddhismus, bei dem es um Geistesgegenwart und auch Spontaneität geht.
Was mich auch stört und das Eintreten des Erfolges beim Einzelnen hinauszögert, ist das Einrasten am Ende einer Technik. Auch das widerspricht dem chan-buddhistischen Denken. Wir müssen dem Schüler erlauben, sich fließender zu bewegen, auch auf die Gefahr hin, dass er Fehler macht.
Weg von den vielen Details und Don’ts zu den zwei Grundformen des Bewegens, dem Annehmen und dem Zurückgeben. Denn darum dreht sich alles. Der Schüler sieht sonst den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.

Du meinst doch mit Wald die Prinzipien und mit den Bäumen die vielen Techniken?

Genau. Die Techniken sind nur die Beispiele, mit denen man den Schüler in den Soloformen, aber auch in den von meinem SiFu erdachten Partnerformen, konfrontiert, um die Prinzipien zu verstehen und zu verinnerlichen. Wenn er selbst Meister ist, braucht er sie eigentlich nicht mehr.

Meinst Du das, wenn Du in der „Essenz“ schreibst: „Der Schüler soll nicht die Übungen lernen, sondern durch die Übungen lernen?“

Bravo! Am Ende soll sich der WT-Meister, so wie ich ihn mir vorstelle, sich nicht durch spezielle Bewegungen auszeichnen, sondern durch eine Art des Bewegens, für die ich den Ausdruck „unspezifisch“ zwar nicht erfunden habe, aber für treffend halte.

Darf ich dieses Interview für das nächste Editorial fortsetzen? Wir müssten uns noch über Deine Lösung des anfangs angesprochenen Problems unterhalten.

Aber mit großem Vergnügen. Antworten ist einfacher, als mir Themen auszudenken.
Übrigens ist „unspezifisches Bewegen“ schon die oben gesuchte Lösung.


Fortsetzung des Interviews im Oktober.