Meister nimmt Unterricht beim Meister
Wenn er nur das Erlernte perfektioniert, meistert er die Techniken, aber nicht die Freiheit und schon gar nicht sich selbst; denn gerade in der Freiheit lauern die Gefahren, dass man sich verirrt oder immer nur im Kreis geht, wie es in der Wüste oder im Ozean passiert.
Also geht der Meister zu seinem Meister, um festzustellen, ob er noch auf „seinem” Weg ist!
Nur dieser kann ihm Hinweise für die weiteren Wegentscheidungen – gehe ich links, rechts, hinauf oder hinunter – geben.
Oft sind es nur Nuancen, gleich einem Schmetterlingsschlag, die eine Entscheidung richtiger oder falscher machen können.
Die Hybris, mit dem Meister(-schlag) schon alles zu wissen und/oder zu können, kennzeichnet den Nicht-Meister; denn das strebende Suchen hört weder beim Meister noch beim Großmeister auf. Trotzdem oder gerade deswegen kann der Großmeister ein Leuchtfeuer für die Orientierung sein.
Deswegen geht der Meister zu seinem [Groß-]Meister! In diesem Sinne ist der nachfolgende Erfahrungsbericht zu sehen:
Sonntag:
Anreise auf die Sonneninsel Teneriffa. Endlich hat es einmal geklappt, die Terminkalender so aufeinander abzustimmen, dass ich mit meinem SiFu eine ganze Woche habe. Voller Vorfreude beziehe ich mein Quartier und schicke eine SMS, dass ich angekommen bin.
Ein Termin wird für Montag 11:30 Uhr angesetzt.
Montag:
Bei der Anfahrt zum Hotel wird mir bewusst, dass ich fast auf den Tag genau vor 27 Jahren das erste Mal einen Privattermin bei meinem späteren SiFu hatte. Damals war ich voller skeptischer Erwartungen. Als langjähriger Karateka mit Einsatzerfahrung war ich neugierig, „mit welchem Wasser gekocht werden würde…”
Von Anfang an faszinierte mich die Logik der Grund- und Kraftsätze.
Die Ausführung – rigoroses Vorgehen mit Kettenfauststößen– war aber nicht durch Nachgeben geprägt. Ich musste mir aber eingestehen, gegen das geradlinige, um nicht zu sagen brutale, Vorgehen, kein Mittel zu haben. Erst später wurde mir klar, dass es lediglich die konsequente Umsetzung des 1. Prinzips war: „Ist der Weg frei, stoße vor!” Ich konnte nämlich dem „vorgehenden Keil” nicht den Widerstand bieten, der zum zweiten Prinzip „Stößt du auf Widerstand, so bleibe kleben!” übergeleitet hätte.
Im Hinblick auf die ReakTsun-Programme erwarte ich nun den Schwerpunkt des Privatunterrichtes auf dem 3. und 4. WT-Grundsatz, was voll bestätigt wird.
Aber es geht darüber hinaus. Was früher für die Arme galt, wird jetzt auch auf den Körper übertragen. Von innen heraus sich den Druckimpulsen des Angreifers/Gegners anzupassen, verlangt eine Umkehrung der bisherigen Gepflogenheiten. Waren bisher die Arme für die Druckaufnahme und -ableitung allein verantwortlich, so rückt nun die Körperarbeit (!) in den Vordergrund.
Erst der mental- und spannungsvorbereitete Körper ist in der Lage, sich den Angriffsdruckimpulsen anzupassen, sich daran zu orientieren und im Laufe des Angriffs schon den Gegenangriff einzuleiten.
Dienstag:
Nachdem am Vortag bereits die Grundsätzlichkeiten ausgiebig dargestellt und geübt worden waren, steht mit dem heutigen Ansatz des LatSao ein neuer Gedanke im Vordergrund:
Man stelle sich vor, der zunächst scheinbar waffenlose Gegner hätte in seiner Faust oder Hand ein Messer oder sonstiges scharfes Werkzeug. Sofort ändert sich die Strategiefrage, um nicht zu sagen die Distanzfrage.
Was sich in diesem Zusammenhang zudem ändert, ist auch die Einstellung zur angreifenden Bewegung. Die Erkenntnis einer finalen Konsequenz erhöht immens die Aufmerksamkeit, selbst bei einem Übungsmesser. Die Schmerzerfahrung und -angst davor manifestiert sich nicht nur am realen Geschehen, sondern auch am „Vorempfinden des Treffers“.
Nehmerqualitäten des waffenlosen Kampfes finden halt ihre Grenzen, wenn es sich um Messer oder ähnliche Gegenstände handelt.
Mittwoch:
Brennende Sonne von oben, schmerzhafte Ellbogenstöße von vorne tauchen meinen Oberkörper nach kurzer Zeit in die Farben rot und blau. Weiches ChiSao kann verdammt hart sein (, wenn die Treffer einschlagen).
Das heutige Thema ist Distanz und Timing und zwar in der Ausgangsposition LatSao, also ohne vorherigen Kontakt. Schnell stelle ich fest, dass in der gewollten Stress-Situation die bisherigen Reaktionsmuster meine Anpassungsfähigkeit hart erproben:
Greife ich selbst an, bin ich so determiniert, dass ich geradezu hilflos in den gleichzeitigen Konter laufe, ohne etwas dagegen machen zu können.
Warte ich den Angriff ab, kann ich zwar Kontakt aufnehmen, biete dann aber für die Folgemaßnahmen zu viel Plattform als Startbasis.
In der begleitenden Diskussion über die Lernfähigkeit unter Stressbedingungen werden mir dann Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt (Leuchtfeuer?!).
Donnerstag:
Wiederholung und Erweiterung des Angreiferkreises.
Bestand die bisherige Auffassung darin, den Angriff des Gegners mit einer „Technik” (BongSao, TanSao) usw. klebend abzuleiten, um dann mit einer Angriffstechnik (Fauststoß/FakSao, ChangSao o.Ä.) mehr oder minder gleichzeitig zu kontern, so ergibt sich beim Hinzutreten eines weiteren bzw. mehrerer weiterer Angreifer ein strukturelles Problem. Es steht kein weiteres Mittel zur Verfügung, um mit dem neuen Gegner Kontakt aufzunehmen.
Es steht das Thema des Timings an, indem der kontaktaufnehmende Arm „im richtigen Moment” den Kontakt löst, um in der noch stattfindenden Angriffsbewegung den Gegenangriff zu führen, wobei es zu einer Kollision des noch sich vorwärts bewegenden Gegners mit dem Gegenangriff kommt.
Bei diesem Zusammenstoß addieren sich die Kräfte und es kommt im wahrsten Sinne des Wortes zu durchschlagenden Wirkungen.
Eine weitere Erfahrung in diesem Zusammenhang besteht darin, dass sich beim Kontakt mit zwei oder mehreren Gegnern die bisher „gefühlte Synchronisation” der Armkontakte bei einem Gegner – was in den Partnerformen (ChiSao-Sektionen) besonders trainiert wird – nicht einstellt. Es kommt hier zu bisher nicht gefühlten, mehrkontaktigen Druckreizen, die ein einzelner Gegner so nicht setzen könnte, da dieser sich immer synchronisiert bewegen muss, weil er zentral von seinem „einzigen“ Gehirn gesteuert wird.
Freitag:
Nach anfänglicher Wiederholung der verschiedenen Phasen der Reaktionsmuster werden die bisherigen Einzelkomplexe in ihrer Zusammenarbeit und Verdichtung dargestellt und ein roter Faden aufgezeigt, mit dem man sich diesen schattengleichen Bewegungsmustern annähern kann.
Das früher einmal praktizierte „Elefanten-ChiSao“ (= ChiSao mit hohem Übungsdruck) zur Herstellung von Druckgefühlen auch bei sehr muskulösen Schülern, ist in der heutigen Sicht völlig kontraproduktiv; denn um hohen Druck aushalten zu können, brauche ich einen festen Stand, um nicht zu sagen einen festen Punkt. Als Vergleich: ChiSao auf einer Eisfläche geht nicht mit Druck!!! Aber gerade dieser feste Punkt nagelt fest und beraubt einen der Möglichkeiten der Ganzkörperanpassung durch Schrittarbeit. Gerade das ist jedoch Grundvoraussetzung, wenn noch mehr Gegner ins Kampfgeschehen eingreifen.
Das wird in der Folge auch mit weiteren Gegnern dann geübt.
Fazit:
Im Sinne der Einleitung war diese Woche für mich nicht nur ein Leuchtfeuer, sondern ein ganzes System von Orientierungspunkten, an dem ich mich als Meister orientieren kann.
Die Frage: „Warum geht ein Meister zu seinem [Groß-]Meister?“, hat sich damit für mich persönlich auf eindrucksvolle Weise beantwortet!
Text: Sifu Heiko Martin