Editorial

Zum Stellenwert von Solo- und Partnerformen (Sektionen)

Großmeister Kernspecht zu einer der zentralen Fragen der Unterrichtsmethode des WingTsun.

Ich werde nicht müde, den Vorrang der Konzepte gegenüber der Form immer wieder vor Augen zu führen.
Wenn man nämlich beurteilen will, ob es sich bei einer Bewegung um WingTsun handelt, ist es entscheidend, ob sie im Einklang mit den sog. WingTsun-Prinzipien erfolgt. Sind die Motive für die Ausführung einer Bewegung im WT-Sinne falsch, dann kann man das Produkt nicht als WingTsun anerkennen, selbst wenn es oberflächlich wie WingTsun erscheint.
Aus meinem strengen Postulat, dass am Ende die Form der Funktion folgen muss und nicht umgekehrt, könnte man falsch interpretierend schließen, dass ich der Form gar keine Bedeutung beimesse. Da ich auch die „Sektionen“, das heißt die „festen Partnersequenzen mit Armkontakt“ zu den Formen zähle, genau gesagt, zu den Partner- oder Zwei-Mann-Formen, folgerten manche messerscharf, aber trotzdem falsch, dass ich deren Wert gering schätze.

Nichts könnte falscher sein! Ich halte die Formen und damit auch die Partnerformen im Chi-Sao-Kontakt für unerlässlich, um den Lernerfolg zu gewährleisten.
 
Dabei muss man immer im Kopf behalten, dass die Solo- und Partner-Formen mit oder ohne ständigen Armkontakt nichts anderes sein wollen als Mittel zu einem höheren Zweck. Der Zweck einer Selbstverteidigung muss immer die Erlangung der Fähigkeit der Selbstverteidigung sein.
Ich habe mich nie gegen Formen an sich ausgesprochen, sondern davor gewarnt, z.B. Sektionen zum Ziel und zum Gott zu erheben.
Darf ich mit mahnendem Zeigefinger an eine der dunkelsten Zeiten des modernen WingTsun erinnern, die im übrigen kaum sieben Jahre zurückliegt, als gewisse Personen sich selbst zum 6. Meistergrad im Leung Ting WingTsun erklärten – und zwar aus dem einzigen Grund, weil sie in gut 40 oder meinetwegen auch mehr Stunden Unterricht in Hongkong die festgelegten Partnerformen auswendig lernen konnten.
Dass ihnen selbst fortgeschrittene Ausbilder auf den Leim gingen, zeigt, dass ich, was den Stellenwert der „Sektionen“ und der anderen Formen betrifft, zu wenig Aufklärung betrieben hatte.
Offenbar müssen meine Veröffentlichungen oder Aussagen den falschen Eindruck hervorgerufen haben, dass die Fleiß- und Gedächtnisleistung des bloßen Auswendigkönnen von bestimmten choreographierten Bewegungsfolgen die Berechtigung gibt, den Meistergrad zu beanspruchen, zu dessen Programm die betreffende Form gehört.
WT-Veteranen mögen sich vielleicht erinnern, dass ich selbst Sektionen und Formen nur in homöopathischen Dosen unter meine Schüler brachte, niemals die ganze Sektion in einem Stück, weil das schon meiner damaligen Erfahrung nach zwangläufig Verdauungsprobleme bringt. Denn nicht nur der Reagierende muss richtig reagieren, der Agierende muss ihm den richtigen Impuls geben, damit das Ganze nicht kontraproduktiv wird. Nach meinem Verständnis müssen Form und Funktion immer Hand in Hand gehen, damit wir unserem Ziel näherkommen.

Wie nun kann uns Form-Training, mit oder ohne kooperativen Partner helfen, zur Verbesserung unserer Selbstverteidigungsfähigkeit beizutragen.
Wir müssen uns zunächst über den Stellenwert dieser Übungen klar werden.
Wir wollen zum Zweck der Anschaulichkeit das Erlernen des WingTsun mit dem Erwerb einer Sprache vergleichen.

• Die 1. Form liefert uns in diesem Falle die Wörter, Vokabeln also, die wir z.T. erst nach Jahren brauchen und verwenden lernen.
• Die 2. Form gibt uns schon zusammengesetzte Wörter, sogar Mini-Sätze.
Die Holzpuppenform gibt uns eine Art idiomatischer Redewendungen, mit denen wir kurze Musterunterhaltungen wagen können, wenn, ja wenn der andere die passende Frage stellt.
Von der 3. Form möchte ich hier nicht sprechen, sie folgt ganz anderen Gesetzen.

Wer eine Sprache erlernt oder gar unterrichtet, weiß natürlich nur zu gut, dass zur freien Unterhaltung mehr nötig ist als Vokabeln und idiomatische Redewendungen und Satzkonserven. Ohne eine Idee von Grammatik oder Syntax zu haben, kann man die Worte kaum richtig aneinanderreihen.

Na dafür haben wir doch unsere Chi-Sao-Sektionen oder? höre ich Euch nach Bestätigung lechzend aufschreien. Gemach gemach, die Antwort ist zum Teil richtig, denn Chi-Sao im Zusammenhang mit den WT-Prinzipien ist wirklich unsere Grammatik, unsere Syntax.
Die früher so genannten Chi-Sao-Sequenzen sind aber kein pures Chi-Sao, kein reines taktiles Reaktionstraining. Sie sind dennoch eine einzigartige Schöpfung von Großmeister Leung Ting, die eine andere wichtige Aufgabe verfolgt: Sie liefern wie Partien von berühmten Schachmeistern die Möglichkeit, sich in die Denkweise eines WT-Meisters hineinzuversetzen und dabei die Prinzipien und die Anwendung der Formen im Detail in einem Frage- und Antwortspiel nachzuvollziehen. Kurz: sie sind Beispielsätze für die Regeln unserer WT-Grammatik.
Je mehr dieser Beispiel-Sequenzen sich jemand einverleibt hat, desto mehr Übungsmaterial hat er zur Verfügung, auch um neue Beispiele zu generieren
Nicht alle diese Sektions-Techniken sind für jeden geeignet. Dem einen liegt die eine mehr, dem anderen eine andere. Ich sehe sie wie die Auslage eines Supermarktes oder wie einen gutbestückten ausgebreiteten Werkzeugkasten. Einer meiner Schüler sprach kürzlich vom „Wissensspeicher“ des Leung Ting WingTsun. Ich denke, der Vergleich macht Sinn.
Hier passt auch der berühmte Satz von Bruce Lee: „Nimm dir, was du brauchst, wirf weg, was nichts für dich ist.“ Ich würde dem gerne hinzufügen: wirf es nicht weg, sondern bewahre es für die Zeit auf, wo du es vielleicht brauchen kannst, für dich oder deinen Schüler.

Si-Fus Idee ging genau in diese Richtung: Der WT-Schüler soll die ganze Vielfalt des WingTsuns erlernen, damit er selbst seine persönliche Auswahl treffen kann. Wenn er nur das übt, was seinem eigenen Lehrer liegt, dann verpasst er möglicherweise die Technik, die „seine Lieblingstechnik“ werden könnte. Trifft er dann aus der Auswahl seines Lehrers seine eigene Auswahl, die er seinem künftigen Schüler weitergibt, dann wird mit jeder folgenden Generation das Material immer weniger und die Kunst verarmt.
In Form des großen, in allen unseren WingTsun-Schulen weltweit angebotenen Wissensspeichers, steht jedem Lernenden jede überlieferte Technik zur Verfügung, nichts kann vergessen werden.
Durch die Reihenfolge der Programme und der Sequenzen war es mit Schaffung der Sektionen – zum ersten Mal in der Geschichte des WingTsun – möglich, dass z.B. ein Universitätsstudent oder sonst jemand, der in eine andere Stadt oder ein anderes Land zieht, in der neuen WT-Schule seinen Unterricht exakt dort fortsetzen kann, wo er ihn abbrechen musste.
Dies ist der große Vorteil und die bewundernswerte Lebensleistung, die wir Großmeister Leung Ting verdanken.
Wir müssen dieses wertvolle Unterrichtsinstrument genau in dieser Weise verstehen und einsetzen und nicht Wirkungen von ihm erwarten, für die es gar nicht geschaffen wurde. Oder würdet Ihr zum Festziehen einer Schraube einen Hammer benutzen?