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Raus aus der Anatomieprüfung – rein in den Sambo-Genickhebel

Die zweite Präsenzwoche am Ende des zweiten Semesters des WingTsun-Studienganges auf Schloss Langenzell hatte es in sich: Hausarbeiten mussten abgegeben werden, die Anatomieprüfung war zu bewältigen und zu guter Letzt mussten sich die Studenten auch noch mit dem Sambo-Ausbilder der bulgarischen Antiterror-Einheit rumschlagen.

Auch für WingTsun-Studenten bedeutet das Ende des Semesters eine besonders arbeitsreiche Zeit. Die Dozenten hatten mehrere Test ausgearbeitet, die das erlernte Wissen des vergangenen Halbjahres auf die Probe stellen sollten. Auch wenn die meisten - wie in einem Fernstudiengang üblich - mittels Internet von Zuhause aus bearbeitet werden konnten, musste sich jeder noch einmal intensiv mit dem Lernstoff der vergangenen Vorlesungen auseinandersetzen.

Einer „echten" Prüfungssituation stellten die Studenten sich bei Professor Koitchev, der speziell für diesen Test aus Bulgarien angereist war. Schließlich sollte das anspruchsvolle Fach „Einführung in die Anatomie" nach zwei Semestern zu einem adäquaten Abschluss gebracht werden. Glücklich konnten sich diejenigen Studenten schätzen, die sich bereits in der Vorbereitungsvorlesung durch rege mündliche Mitarbeit hervortaten. Sie prüfte der Professor bereits vorab sprichwörtlich „auf Herz und Nieren" und entband sie dann zu ihrer freudigen Überraschung vom schriftlichen Test am Nachmittag. Der wiederum hatte es durchaus in sich, denn wollte man hier eine gute Zensur erhalten, musste man nicht nur den kompletten durchgenommenen Stoff auf Abruf haben (von A wie Atemapparat bis Z wie Zentrales Nervensystem), sondern sich auch in den lateinischen Fachausdrücken als Kenner der Materie erweisen.

Die an den folgenden Tagen stattfindenden praktischen Seminare zu WingTsun, Escrima und ChiKung empfanden die Kampfkünstler natürlich als Erholung. Zusammen mit Professor Kernspecht arbeiteten die Kommilitonen weiter an der Standardisierung der Schülerprogramme. Ein Unterfangen, das nicht nur die pädagogischen und didaktischen Fähigkeiten der Studenten schult, sondern im Ergebnis auch einen unmittelbaren Nutzen für alle WT-ler darstellt. Noch nie in der Geschichte des WingTsun beschäftigte sich eine so große Arbeitsgruppe derart eingehend mit dem Unterrichtssystem. Hochqualifizierte WT-Lehrer und -Meister bringen ihren Erfahrungsschatz aus jahrzehntelanger Unterrichtstätigkeit in die Diskussion ein.

Im Unterrichtsfach „Escrima" stellte Sifu Oliver König die ersten beiden Schülergradprogramme vor, wie sie von Großmeister Bill Newman und seinem Team nach sorgfältiger Prüfung und Auswertung jahrelanger Entwicklung festgelegt wurden.

Während die Praxisveranstaltungen durchwegs an der frischen Luft abgehalten werden konnten und alle in den Genuss der ersten Frühlingssonnenstrahlen kamen, musste am Donnerstag Nachmittag wieder die „Schulbank" gedrückt werden. Professor Kernspecht hatte Frank Taherkhani berufen, die Einführungsveranstaltung in das wissenschaftliche Arbeiten im Fach Philosophie zu leiten. Anhand der aufgegebenen Hausarbeit zu Erich Fromms Buch „Haben oder Sein" erläuterte Taherkhani die wichtigsten formalen und methodischen Grundlagen der Paradedisziplin der Geisteswissenschaften.

Ein ganz besonderes Highlight wurde den Studenten am Freitag geboten. Professor Kernspecht war es gelungen, für das Fach „Verschiedene Kampfstile" Stojan Saladinov als Dozenten zu berufen.

Saladinov ist Absolvent der Nationalen Sportakademie Sofia im Fach „Sportpädagogik", Weltmeister und mehrfacher Gewinner zahlreicher nationaler und internationaler Meisterschaften im Sambo und seit mehr als zwanzig Jahren aktiv im Polizeidienst tätig. Hier leitet er u.a. die Nahkampfausbildung der bulgarischen Antiterror-Einheit. Er wurde selbst zwei Jahre lang bei den russischen Alpha-Teams im Sambo-Ringen ausgebildet und integriert diese Techniken seither in die Ausbildung der bulgarischen Spezialeinheiten. In aberhunderten Einsätzen konnte er die Praxistauglichkeit der trainierten Bewegungen überprüfen und diese Erkenntnisse wiederum in die Ausbildung einfließen lassen.

Von der ersten Minute seines Unterrichts an, hatten die Studenten den sympathischen Kämpfer in ihr Herz geschlossen. Als ein unbedingter Mann der Tat ging er, ohne viele Worte zu verlieren, sofort zur Sache. Kurzes Aufwärmen und Saladinov legte los. Mit impulsiver Dynamik zeigte der Bulgare, wie effektive Ringertechniken aussehen, wenn sie durch die harte Schule der Realität geschliffen wurden. Das Energiebündel demonstrierte kurz eine Technik und forderte sogleich alle Teilnehmer zu fleißigem Üben auf. Klar, dass die trainingsbegeisterten WT-ler gleich voll bei der Sache waren. Ganz selbstverständlich kam Saladinov zu jedem einzelnen, erläuterte – natürlich praktisch – die jeweilige Technik, gab hier einen Tipp, stellte sich dort selbst als Trainingspartner zur Verfügung und hinterließ den Eindruck, als sei er immer überall anwesend.

Teils bestätigt, teils überrascht stellten die Studenten fest, dass die von Saladinov gezeigten Sambo-Techniken durchaus typischen WingTsun-Prinzipien ähneln. Letztendlich jedoch logisch, dass wer sich an der Realität misst, schließlich zu vergleichbaren Ergebnissen kommen wird.

Auch Saladinov war sichtlich erfreut, wie aufmerksam und motiviert die Anwesenden seinen Ausführungen folgten.
Nicht wenige der Studenten nahmen sich sogleich vor, am folgenden Wochenende auch noch nach Frankfurt zu fahren, als sie von Professor Kernspecht erfuhren, dass er den Gastdozenten aus Bulgarien auch bei seinen Lehrgängen der nächsten Tage begrüßen würde.
Darüber hinaus sollte auch eine ehemalige Schülerin Saladinovs zu Gast sein, die als sehr erfolgreiche professionelle Wettkämpferin im Boxen bekannt ist. Daisy Lang ist GBU-Weltmeisterin im Bantamgewicht, WIBF-Weltmeisterin im Jr.-Bantamgewicht (1999 - 2003) und GBU-Weltmeisterin im Superbantamgewicht (2003). Tatsächlich fand die gleichsam attraktive wie kampfstarke Daisy Lang so großes Gefallen an WingTsun, dass sie beim Osterlehrgang ebenfalls dabei war und sich danach spontan entschloss, von nun an von Sifu Kernspecht privat WT lernen zu wollen.)

 

Mit dem Abschluss des zweiten Semesters ist bereits eine gewisse Routine bei allen Teilnehmern des WT-Studienganges eingekehrt, die ein noch konzentrierteres Studieren fördert. In gespannter Vorfreude erwarten nun Studenten und Dozenten das nächste Halbjahr, um sich auf neue interessante Wissensgebiete stürzen zu können.

 

Text: Markus Senft