WingTsun

Interview mit Stefan Crnko über BlitzCombat

Nach der Vorführung auf Mallorca war die WingTsun-Welt-Redaktion neugierig und hat Stefan Crnko ein paar Fragen gestellt, um ein WingTsun-Porträt des 39-Jährigen zu zeichnen. Was dabei herauskam, kann im Folgenden nachgelesen werden. Zum Aufwärmen gab es erst einmal die Frage nach der Graduierung.

WTW: Stefan, welche WingTsun-Graduierung hast Du derzeit?
Stefan: Die Tage meines 4. TG sind gezählt.

Das heißt, SiGung prüft Dich gerade auf Herz und Nieren für den 5. PG.
Ja.

Seit wann machst Du WT?
Schon ziemlich lange. Ich erhielt bei Meister Mario Janisch bis zum 3. TG die denkbar beste Ausbildung. Dann wurde ich als Privatschüler von GM Keith R. Kernspecht angenommen, von dem ich weiterhin begeistert lerne.

Hast Du andere Kampfkunsterfahrungen? Wenn ja, welche? Wie lang?
Mit Kampfsport habe ich schon sehr früh angefangen – zunächst mit Judo, dann Karate. Zuletzt verbrachte ich 14 Jahre im Thai- und Kickboxen, bis ich WingTsun bei SiFu Mario kennen lernte. Danach dachte ich mir: „Schei…! Warum hast du das nicht früher schon für dich entdeckt. Ich halte es als Kampfsystem für das beste, was momentan zu finden ist. Man sollte sich nur nicht die Regeln und Kampfweisen der anderen Stile oder „Kampfsportarten“ aufdrücken lassen. Wir machen keinen Sport, wir machen Selbstverteidigung.

Warum hast Du Käfig-Kampf u. Ä. betrieben?
Ich habe damit angefangen, weil ich für mich etwas suchte, um all die schönen Dinge, die wir so tagtäglich trainieren, auch einmal richtig anwenden zu können, aber ohne gleich dafür entweder eine Vor- oder Geldstrafe zu kassieren bzw. sogar ins Gefängnis gehen zu müssen. Das sollte jetzt kein Scherz sein, sondern voller Ernst: Wir trainieren sehr gefährliche Bewegungen. Ich vermeide absichtlich das Reizwort „Techniken“. Man sollte die enorme Wirksamkeit des WT nicht unterschätzen. Man kann sich damit sehr gut und effektiv verteidigen. Aber man kann sich auch ganz schnell in sehr große Schwierigkeiten bringen. Nämlich wenn man nicht unter Kontrolle hat, welche Methoden man einsetzt. Notwehrüberschreitung ist sehr schnell passiert: die Verletzungen können sehr schwer und auch  lebensbedrohlich ausfallen, wenn in der Hitze des Gefechtes das Gefühl und der Distanzsinn nicht so funktioniert wie beim Training in der Schule.
Darum habe ich angefangen realistisch mit WT zu kämpfen. Im Käfig muss man sich keine Gedanken über die Verletzungen des Gegners und die daraus resultierenden Folgen machen; denn der andere weiß ja auch genau, auf was er sich einlässt. Jeder macht aus freien Stücken mit. Gekämpft wird gegen so ziemlich alle Kampfsportarten, die es gibt – außer gegen Wing Tsun. Und genau dafür wurde WingTsun auch erfunden: um gegen die anderen Stile und Kampfsportarten zu bestehen. Mit Recht kritisiert GM Kernspecht, dass die modernen WingTsun-Leute – und nicht nur in Hongkong – immer nur den Kampf gegen andere WingTsun-Leute im Kopf haben und nur dafür üben.
Ich habe viele Jahre an der Tür gearbeitet. Hätte ich jedes Mal finale WT-Methoden angewendet– so kompromisslos, wie ich sie gelernt  habe – müsste ich dieses Interview jetzt durch die Glasscheibe einer Gefängnisanstalt geben.

Hast Du außer beim Wettkampf praktische kämpferische Erfahrungen?
O ja, habe ich. Ich war lange beim Militär und bilde jetzt auch immer noch Militärs aus. Nicht nur in Selbstverteidigung, sondern außerdem in Waffen und Taktik. Aber keine normalen Soldaten. Die Elitesoldaten, die ich ausbilde, kommen und gehen, ohne dass die meisten merken, dass sie überhaupt da waren – wenn Du verstehst, was ich meine.

Wie wichtig ist für Dich das Bodenkampftraining oder besser vielleicht das Training am Boden?
Bodenkampf ist für die sportliche Seite und sportliche Wettkämpfe unumgänglich. Wenn Du Dir die Kämpfe einmal anschaust, nach 10-20 Sekunden gehen die meisten auf dem Boden weiter. Dadurch wird es zur wichtigsten Sache – für den Sportaspekt.
Wer solche Sportkämpfe sieht, muss unweigerlich denken, dass Kämpfen am Boden auch für die Selbstverteidigung oder für Militär und Polizei, die vielleicht jemand festnehmen müssen, von größter Bedeutung ist. Das trifft aber überhaupt nicht zu.
Wie GM Kernspecht erkannt hat, gibt es keine „Bodenkampf“-Phase im häufigsten Kampftyp auf der Straße: dem Ritualkampf unter Männern. Wer zu Boden fällt und nicht schnell genug aufsteht, wird vom anderen in die Rippen und an den Kopf getreten.
Selbst wer es geschafft hat, auf seinem Gegner zu liegen und ihn unter sich festzuhalten, ist das hilflose Opfer der Fußtritte der Kumpels seines Gegners. Heute hat man es immer öfter mit mehreren Gegnern zu tun und Fairness gibt’s nicht mehr.
Also, ich habe es noch nicht oft erlebt, dass jemand auf der Straße einen zu Boden geschlagen hat und sich dann zu seinem Kontrahenten auf den Boden wirft, um mit ihm am Boden weiterzumachen. Stattdessen kommen die Füße zum Einsatz. Man wird getreten und man tritt selbst zu.
In der Halle, wo schön weiche Matten auf dem Boden liegen, man auch dementsprechende Trainingsbekleidung anhat oder der Oberkörper frei ist, mag das ja noch Sinn und Spaß machen. Aber wer legt sich schon freiwillig auf die schmutzige und nasse Straße. Und das noch mit den schönen Ausgehklamotten? Ich denke, jeder der ehrlich zu sich selbst ist, wird versuchen zu vermeiden auf den Boden zu kommen oder zu gehen. Oder? Dasselbe gilt für die Disko. Wer will schon wirklich Bodenkampf machen – sich mit seinem Party-Outfit in Zigarettenstummeln und Glasscherben wälzen???
Und was man nicht vergessen sollte: Auf dem Asphalt der Straße oder auf den klebrigen und schmutzigen Diskoböden rutscht es nicht so gut wie auf den Matten im Trainingsraum. Allein dadurch sind schon viele schöne Techniken nicht durchführbar. Wo bitte ist da der Spaßfaktor oder der sportliche Aspekt? Ich kann keinen erkennen. Wer es nicht glaubt, einfach selbst einmal versuchen.
Auch die Spezialkommandos von Polizei und Militär sind darauf bedacht, nicht auf den Boden zu kommen. Mit der ganzen Ausrüstung am Körper möchte ich einmal einen Polizisten sehen, der noch fähig ist, Bodenkampf zu machen.
Wie gesagt, in der Halle auf Matten für den sportlichen und konditionellen Aspekt ist es sicher eine super Sache. Und bringt mehr funktionelle Kondition als Joggen oder Radfahren.

Gibt es denn einen guten Grund, um in der Halle am Boden zu ringen?
Aber sicher. Um sich auf sportliche Wettkämpfe, die Ringen am Boden beinhalten, vorzubereiten. Um Spaß zu haben. Um sich einmal richtig körperlich auszupowern. Am Boden zu ringen, ist Schwerstarbeit. Ich bin mir sicher, egal wie oft jemand im Studio mit Hanteln trainiert, nach einer Stunde am Boden wird er am nächsten Tag Muskelkater haben – an Stellen, von denen er nicht wusste, dass er dort Muskeln hat.

Das heißt, Du unterrichtest keinen Bodenkampf?
Nein, da habe ich mich wohl unklar ausgedrückt. Ich bringe WT-Leuten nur wenig Ringen am Boden bei. Ich zeige, wie am Boden pure WT-Methoden (Schlagen, Stoßen, ChiSao) – vor allem Ellenbogen und Knie – zum Einsatz kommen und so den Ringern das Leben schwer gemacht wird…

Worauf legst Du beim kämpferischen WingTsun-Training Wert?
Ich lege großen Wert darauf, dass die Anwendungen (Schläge, Tritte) mit Power durchgeführt werden können und müssen. Lieber etwas weniger gefuchtelt, aber dafür sicher, präzise und kraftvoll das Ziel treffen. Es nützt nichts, wenn ich 5 Minuten um meinen Gegner herum laufe, an ihm alle Partnerformen (Sektionen) ausprobiere und das Ganze nur mit einer Schlagkraft von 3 kg. Das kostet sehr viel Zeit und macht unheimlich müde. Ich sage nicht, dass Partnerformen nichts bringen für den Kampf. Aber es sind nur Beispiele. Eines muss man klar sehen: mit dem Ablauf der Sektionen kann man nicht eins zu eins kämpfen. Sie wurden auch nicht zum Kämpfen entworfen. Sie dienen dazu, dass man das Wissen bewahren und weitergeben kann. Das haben viele leider noch nicht verstanden. Und will man damit kämpfen trainieren, darf man sie nicht in einem Stück machen, sondern wie GM Kernspecht es uns auf Mallorca und in Livorno vormachte: in kleinste Teile zerbrochen und mit vielen Variationen. Und dann ist es auch unumgänglich, mit Schutzausrüstung zu trainieren. Im Gegenteil, es ist sogar dumm ohne. Besonders die EWTO-Halskrausen zum Schutz des Kehlkopfes gegen Handkantenschläge sind ein lebenswichtiger Schutz. Wie kann man ohne die überhaupt die 6. Sektion oder BiuDjie-ChiSao üben? Ich trainiere, wenn ich es richtig zur Sache gehen lasse, auch mit Schutz. So kann ich spüren, wie groß die Schlagkraft meines Partners ist und ihm hinterher sagen, welche Schläge Wirkung zeigen und welche Schläge er noch trainieren muss. Mein Partner kann dabei seine Schlagkraft trainieren. Er muss ja nicht gleich voll „reinhauen“, aber sich langsam herantasten. Allein die Hemmung zu überwinden, einem ins Gesicht zu schlagen, ist für die meisten schon ein Problem, obwohl sie ihr Gegenüber kennen. Wenn sie das schon nicht im Unterricht können, was bitte machen sie dann auf der Straße? Die Ausrede: „Ja, aber auf der Straße, da würde ich…“, ist glatter Selbstbetrug. Aber gar nichts würde er/sie tun! Das habe ich doch immer wieder erlebt. Für realistische Selbstverteidigung sind zwei Punkte wichtiger als alles andere:

• Schlagkraft
• Der Wille, jemanden auch wirklich zu schlagen/schlagen zu müssen. Ob man will oder nicht, kann sein,
   dass es Deinem Gegenüber egal ist, was Du willst oder nicht. Der schlägt einfach zu.

Diese beiden Dinge sollten unbedingt in das WT-Training mit einfließen. Es ist besser, nur zwei effektive Schläge für sein Gegenüber zu benötigen, als 100 ohne Wirkung. Wenn ich an all die schwachsinnigen Videos im Internet denke, wird mir schlecht.
Wer benutzt eigentlich noch das Anker- oder Triggerwort, das uns psychologisch hilft, die Hemmschwelle zum Zuschlagen zu überwinden (BlitzDefence-Buch: Angriff ist die beste Verteidigung)?
SiGung begann vor drei Jahren, mit der Halskrause und Handschuhen zu trainieren. Zwei Monate lang trugen sie einige andere auch, dann waren sie wieder verschwunden. Warum? Das Trainieren mit Schutzausrüstung ist notwendig, um die Schlagtechniken und die Schlagkraft zu entwickeln. Ohne die gibt es keine Verteidigung. Ich nehme die Halskrause heute noch sehr viel. Ich habe sie sogar etwas verstärkt. SiGung schlägt jetzt härter zu als früher.

Bei diesen Worten lacht Stefan anerkennend.

In letzter Zeit hatte das Training am Boden einen verstärkten Einfluss vom Jiu-Jitsu bekommen. Hältst Du es für notwendig, dass so etwas zusätzlich zum WT trainiert werden muss?
Ich bin überzeugt und sicher, dass es nicht notwendig ist, noch etwas Zusätzliches und WT-Fremdes zu trainieren. Wenn jemand etwas Sport dazu machen möchte, ist es eine ganz andere Sache.
Wir haben im WingTsun alles, was wir brauchen. Egal, ob im Stand oder am Boden. Wer es nicht glaubt, bitte bei mir melden.
Was man im Ringen, Judo, Jiu-Jitsu usw. sieht, ist für den Sport gemacht und auch die Regeln sind danach ausgerichtet. Die Betonung liegt auf dem Wort „Regeln“. Wenn ich trainiere (Sparring und realistische Verteidigung), trainiere ich sehr selten mit WT-Leuten, denn das sind ja nicht meine potentiellen Gegner. Und meistens  – nach den ersten zwei Schlägen – kommen meine Gegner mit Sprüchen wie: „Ja, du schlägst ja mit den Beinen, du nimmst ja die Ellenbogen und die Knie… usw.“ „Na klar!“, sage ich, „ich mache ja auch WT. Ich habe keine Regeln, an die ich mich halten muss, und deine Regeln interessieren mich nicht. Jeder macht das, was er kann. Wenn du denkst, du hast nicht genug Möglichkeiten, dann musst du halt auch mit WT beginnen.“

Stefan lacht verschmitzt, bevor er wieder ernst wird.

Wir sind im WT gegen alles gerüstet. Wir dürfen uns nur nicht die Regeln der anderen aufdrücken lassen, und wir müssen die Trainingsweise etwas ändern. Das Wissen, wie man es macht, haben wir in der EWTO.

Mehr fällt mir jetzt nicht ein. Aber fürs Erste reicht es bestimmt. Bin gespannt, wann die offizielle Premiere kommt. Vielleicht beim Leadership-Kongress?
Keine Ahnung, ich lass mich so kurzfristig überraschen wie auf Mallorca.

Danke, Stefan, dass Du Dir die Zeit für das Interview genommen hast. Bis bald!

Fotos: San Marco Regiments/hm

PS: Inzwischen hat Stefan Crnko seine Ernennung zum 5. PG erhalten. Wir gratulieren ganz herzlich!