WingTsun

Gewaltprävention und WingTsun für geistig behinderte Kinder und Jugendliche? –Teil 2

Im ersten Teil hatte Susanne Rösinger von den wichtigen Vorarbeiten für einen Gewaltpräventionskursus mit geistig behinderten Kindern berichtet. Dieses Mal stellt sie die Ergebnisse des Kurses im Finkennest vor: für alle Beteiligten eine positive Bilanz!

Der Kursus
Also der Kursus begann und ich wurde freudig und aufgeregt von den Kindern begrüßt.
Zwei Betreuerinnen waren mit dabei: Inge und Daniela. Zu meinem Erstaunen waren alle hoch motiviert und haben entsprechend ihren Fähigkeiten das Beste aus sich herausgeholt.
Manche Übungen aus dem Programm hatte ich vereinfacht: Für die Vorstellung sollten sie nur ihren Namen und ihr Alter sagen und was sie gerne in ihrer Freizeit machen. Da sie keine Schulnoten kennen, galt ersatzweise: Daumen hoch = Note 1, Daumen nach unten = Note 6, dazwischen die anderen Noten, um ihnen die Wertigkeit von Selbstbehauptung = Note 1 + 2 und Selbstverteidigung = Note 3 + 4 zu erklären.
Kettenfauststöße im Dreierrhythmus waren zunächst eine große Herausforderung. Nach ein einigen Kursstunden funktionierte es bei den meisten dann schon recht gut. Tritte in Kombination mit Fauststößen hat später allen Spaß gemacht. Besonders zwei der Mädchen und ein 18-Jähriger machten es sehr gut. Als einfaches Beispiel für das Ziel „Hände vor“ kamen, wie bei den ganz kleinen Kids, die Wäscheklammern am T-Shirt zum Einsatz, die sie gegen ein anderes Kind verteidigten, das die Klammern stibitzen wollte.
Letztendlich wurden alle Übungen für Note 4 und 3 und einige Zusatzübungen innerhalb von sechs Unterrichtsstunden absolviert. Einige Kinder zeigten sogar motorisch recht gute Fähigkeiten, zum Beispiel der bereits erwähnte 18 Jährige, der sich auch richtig anstrengte. Bei anderen waren nach der ersten Woche plötzlich für sie ganz neue Bewegungsmuster abgespeichert. Zum Hemisphärenausgleich und für die Konzentration ließ ich die Kinder immer zu Beginn und zum Ende der Kursstunden Satz 1und 2 aus der SiuNimTau üben.
In der zweiten Woche wurden die Übungen zur Selbstbehauptung = Note 2 und 1 durchgenommen und natürlich Kombinationen von Selbstbehauptung und Selbstverteidigung, also auch immer wieder Schlag- und Trittübungen, ebenso Befreiungen aus Umklammerungen. In der zweiten Woche hatte ich zur Unterstützung einen meiner Schüler, Connor, der schon sehr engagiert beim Kids WT mithilft, mitgenommen, damit er sich mit um die zwei großen 18-jährigen Jungen kümmerte.
Besonders gut absolvierten alle die Wahrnehmungsübungen zur Selbstbehauptung und den Einsatz von Blick, Mimik, Gestik, Körpersprache und Stimme. Gut gefallen hat ihnen auch das Buch „Das große und das kleine NEIN“, in dem für Kinder sehr anschaulich erklärt wird, dass ein Nein laut und deutlich gesagt werden muss, damit es beim Anderen auch so ankommt. Das haben sie verstanden und setzen es auch inzwischen in ihrem Alltag um. Das bedeutet: Bei „Streitigkeiten“ untereinander nehmen sie es sehr wohl wahr, ob das Nein jetzt eindeutig oder zu leise und schwach war oder auch, dass sie selbst das Nein des Anderen akzeptieren müssen.

Feedback der Betreuerinnen
Schon während des Kurses bekam ich positives Feedback von den Betreuerinnen Inge und Daniela:
„Die Kinder sind während des Kurses hellwach. Sie gehen über bisherige Grenzen hinaus. Sie setzten jetzt bei Alltagsverrichtungen, die manche bislang einhändig machten, vermehrt die zweite Hand mit ein. Chris (Name wurde von der Redaktion geändert) ist weniger aggressiv. Er kann jetzt auf einem Bein hüpfen. Das hat er vorher nicht getan. Wenn einer stört oder ärgert, werden die Hände vorgenommen und es kommt ein deutliches: „Hör auf mich zu…!“ Sie können sich besser konzentrieren. Ihr soziales Miteinander hat sich verändert. Bei einigen Kindern hat sich motorisch viel, vor allem in Bezug auf Koordination beider Hände oder gleichzeitigem Einsatz von Arm und Bein, verändert.“

Mein persönliches Fazit zum Kursus im Finkennest
Es war für mich beeindruckend, wie die Kinder mitgingen, mit allem, was sie leisten konnten. Natürlich haben sie mehr Pausen gebraucht und ich musste im Unterrichtsstoff langsamer vorangehen. Etwas anstrengend war es für mich, bei jeder Übung wahrzunehmen, was nun bei dem Kind wirklich angekommen und verstanden worden war. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das EWTO Gewaltpräventionsprogramm ( Grundkursus) von Sifu Roy mit ihnen komplett umsetzten könnte. Das spricht für die besondere Qualität und Anpassungsfähigkeit des Programms!
Die motorischen Verbesserungen waren bei den meisten sichtbar: Besseres Gleichgewicht bei Trittübungen, Koordination Hand und Fuß, mehr Genauigkeit z.B. einen Punkt auf der Schlagpolster zu treffen, (fast) gleichzeitig abwehren und schlagen. Eindeutig war die Veränderung im Verhalten bei unangenehmen Situationen: Zum Beispiel bei der Übung, wo sie an einer Gruppe vorbeigehen mussten, die ärgert und pöbelt. Zu Beginn der Übung flossen manchmal schon ein paar Tränen, zum Schluss wurde es dann souverän absolviert.
Mein persönlicher Eindruck war, dass geistig behinderte Kinder sehr viel lernfähiger sind, als man ihnen häufig zu gesteht. Sie brauchen etwas mehr Zeit und lernen durch Wiederholung und sehr gut über körperliche Wahrnehmung und Fühlen. Im Gehirn können dann auch neue Verknüpfungen geschehen. Das ist meine sehr persönliche Meinung aufgrund der gewonnen Eindrücke.
Besonders berührt hat mich, die Freude in den Gesichtern, wenn sie eine Sache umsetzen konnten, die sie sich selbst nicht zugetraut hatten. So manches Kind ist dabei, die Opferrolle zu verlassen. Ich denke, wichtig für einen solchen Kursus ist die Vorbereitung auf die einzelnen Kinder, mit Einstufung der Leistungsfähigkeit. Ebenso wichtig ist, dass die Betreuer sie unterstützen und ihnen helfen, das Gelernte in ihrem Alltag umzusetzen. Für diese Unterstützung ein Dank an das Team vom Finkennest.

Danke an die teilnehmenden Kinder! Ich habe viel von euch gelernt!

Text: Sifu Susanne Rösinger

WingTsun-Schule Michelstadt
Fotos: Finkennest

Quelle zur Definition und Einstufung „geistige Behinderung“: Wikipedia, freie Enzyklopädie