WingTsun

Der Weg des Großmeisters

In diesem WingTsun-Welt-Interview erklärt Großmeister Kernspecht erstmals die übergeordnete Philosophie im WingTsun und verdeutlicht, wieso Meister und Schüler die Prinzipien des Systems unterschiedlich anwenden. Er gibt exklusiv Antworten auf die Fragen: Wieso soll der Schüler lieber angreifen, der Meister aber abwarten? Warum sind Chi-Sao-Sektionen wichtig, aber trotzdem nicht ausreichend? Wie verändern sich in Zukunft die Unterrichtsprogramme für Schüler und Techniker? Und natürlich: Wie wird man eigentlich Großmeister?

Großmeister Kernspecht: Geweckt wurde ich heute Morgen durch ein Bohren in der Wand. Um acht Uhr! Da sieht man einmal, wie besonnen ich geworden bin: Früher wäre ich hinübergelaufen und hätte den Mann geschüttelt. Habe ich aber nicht gemacht; ich bin nur aufgestanden, habe mich rasiert und angezogen. (lacht)

WTW: Womit wir beim Thema wären: Wie lernt man am besten WingTsun, wie lernt man jemanden zu schütteln, falls man das will?

Also ich glaube, es geht eher darum, sich selbst nicht schütteln zu lassen.

Und wie geht das? Wie kann man am schnellsten WingTsun erlernen?

Es gibt zwei Arten wie WingTsun weltweit angeboten wird. Einmal als traditionelle Kampfkunst, mit der Betonung auf Kunst – leider nicht auf Kampf. Das ist WT als Zweck, eine Kunstform, die auch Kultur beinhaltet. Bei der zweiten Art wird WingTsun als Mittel zur Selbstverteidigung eingesetzt, einfach deshalb, weil es von allen traditionellen Stilen – meines Erachtens – der praktischste ist.

WingTsun bedeutet also nicht gleichzeitig Selbstverteidigung?

Das habe ich früher geglaubt. Ich hätte früher jedem erzählt, dass WingTsun gleich Selbstverteidigung ist. Ich wunderte mich immer über die Karateka, die zwischen Karate und Selbstverteidigung unterschieden haben. Meiner Meinung nach war das unnötig: Wenn ich Karate lerne, lerne ich doch Selbstverteidigung – dachte ich damals. Dann durchschaute ich irgendwann, dass vieles im Karate mit Kämpfen nichts zu tun hat, wie zum Beispiel Dehnübungen oder Gürtel binden, Katas vor dem Spiegel usw. Im WingTsun ist das nicht so extrem. Deshalb ist WingTsun unter all den Kampfkünsten die praktischste. Wir schleppen von allen den geringsten Ballast mit uns herum. Aber wer sich sehr schnell verteidigen möchte, für den ist es immer noch nicht zielstrebig genug. Es kommt immer darauf an, wie viel Zeit jemand hat, Kampfkunst zu trainieren.

Ist Selbstverteidigung also kein feststehendes Konzept, sondern abhängig von der Trainingsdauer und den Voraussetzungen des Einzelnen?

Traditionelles WingTsun dauert zehn Jahre oder mehr. Am Ende kann man sich damit gut verteidigen, aber der Zeitraum bis dahin kann ziemlich lang sein, auch wenn er kürzer ist als bei anderen Stilen. Wenn ich Schüler unterrichten will, die in der Sicherheitsbranche arbeiten oder bei der Polizei, dann macht es wenig Sinn, ihnen zuerst Siu-Nim-Tau beizubringen, dann Cham-Kiu, dann Dan-Chi … Das wird ihnen nicht helfen. Ich würde sagen: Das traditionelle WingTsun ist ein Studium, das auf Jahrzehnte ausgerichtet ist und dann seinen Erfolg bringt.

Liegt es an der Mentalität der Chinesen, dass das Konzept so ausgerichtet ist?

Es liegt sicher an der Idee, dass man früher durch Geduldsübungen den Charakter des Schülers erforschte und erprobte. In der Anfangszeit haben wir Schläger, die WingTsun lernen wollten, um es zu missbrauchen, abgeschreckt, indem wir ihnen nur die Siu-Nim-Tau zeigten. Die waren wir ganz schnell wieder los. Damit es kein Missverständnis gibt: In der Siu-Nim-Tau verbirgt sich sehr viel Sinnvolles, aber die Form ist langfristig angelegt, ihre Früchte werden erst nach vielen Jahren sichtbar.

Was ist die Aufgabe der waffenlosen Formen?

Fast alle asiatischen Stile arbeiten mit einer festen Form, und früher war es sogar so, dass die Stile auch mit der Form endeten – mehr gab es nicht. Das alte Karate hatte nur Kata, Kata und noch einmal Kata, sonst gab es überhaupt nichts. Es gab keine Partnerübungen, kein Kumite, keinen Kampf, noch nicht einmal eine Grundschule. Das kam alles erst später. Dann hatte man auch nur die Form, daraus Bewegungen als Grundschule und als Letztes den Freikampf. WingTsun ist in der glücklichen Lage, dass es noch ein drittes, verbindendes Element hat: Chi-Sao, das taktile Training. Dieses fehlt den meisten anderen Stilen leider komplett. Zurück zur Frage: Mit den Formen kann man 80% aller Anforderungen abdecken, die zur Selbstverteidigung nötig sind.

Was für Anforderungen meinst Du?

Es gibt sieben Verteidigungsvoraussetzungen im WingTsun: Bewusstheit, Beweglichkeit, Gleichgewicht, Einheit des Körpers, das heißt, wie man Kraft entwickelt und einsetzt, Wahrnehmungsfähigkeit (Sinne entwickeln: Sehen, Tasten etc.), die Königsdisziplin – das Timing – und natürlich die Voraussetzung, ohne die eine Selbstverteidigung nie funktioniert: den Kampfgeist.
Die WingTsun-Formen inklusive Partnerformen, früher etwas irreführend Chi-Sao-Sektionen genannt, bilden von diesen sieben essentiellen Voraussetzungen tatsächlich fünf sehr gut aus.
Allein Tastsinn und Timing werden nicht genügend trainiert, weil die Partnerformen einen festen Ablauf haben. Dadurch werden bei den Formen immer nur das Timing und der Tastsinn mit sich selbst oder in abgesprochenem Maße mit dem Partner herangebildet. Es fehlt immer noch das Element, das es erst zum Kampfelement macht, nämlich der frei agierende Gegner.

Weshalb nutzen die Chinesen dann die Partnerformen?

Das ist eine Erfindung von Großmeister Leung Ting, die es im traditionellen WingTsun vorher nicht gab. Es gab zwar Chi-Sao, aber das war nie strukturiert. Die Strukturierung stammt von meinem Si-Fu und ist seine Leistung. Vorher lernte der Schüler immer das, was dem Lehrer behagte, meistens dessen Lieblings-techniken. Um dem Schüler möglichst viele Bewegungen zu vermitteln, wurden die Chi-Sao-Sektionen, sprich Partnerformen, entwickelt, die man gefahrlos durchspielen kann.

Aber das sind dann tote, weil festgelegte, Bewegungen?

Richtig, die Bewegungen sind festgelegt; deshalb weiß der Partner immer schon vorher, was gleich passiert. Er muss keine Entscheidung treffen, sondern er hat schon die Antwort, bevor die Frage gestellt wird. Im Kampf weiß ich aber nicht, wo der Gegner hinschlägt oder hindrückt. Insofern wird durch die Partnerform der Tastsinn nicht in der Weise entwickelt, dass er uns helfen könnte, Entscheidungen für uns zu treffen.

Was aber für die Verteidigungsfähigkeit nötig wäre?

Korrekt, ja.

Also fand das zielgerichtete Üben des Tastsinns bisher nicht statt?

Das Einpflanzen und Trainieren des Tastsinns ist immer die Aufgabe des Meisters gewesen. Er geht individuell von einem Schüler zum anderen, fasst ihn an und pflanzt Reflexe ein.
Großmeister Leung Ting hatte die großartige Idee, ein Programm zu entwickeln, mit dem eine große Menge Schüler unterrichtet werden kann. Das gab es ja in China vorher nicht. Da trainierten immer nur kleine Gruppen WingTsun. In Deutschland bauten wir aber hunderte von Schulen mit vielen Schülern auf. Deshalb mussten wir das Programm strukturieren. Auf einem Lehrgang, auf dem 50 Schüler sind, ist es uneffektiv, wenn 49 zusehen, während der Lehrer mit einem Schüler den Tastsinn trainiert. Aber genau dies war die traditionelle Methode aus China. Das Problem ist, dass man den Tastsinn nicht durchs Zuschauen trainieren kann. Deshalb wurden die Partnerformen entwickelt: Alle konnten üben und die Zeit nutzen, bis der Lehrer zu ihnen kam und mit ihnen das Fühlen trainierte.

Wenn der Tastsinn in den Partnerformen nur zu einem geringen Teil trainiert wird und es bisher ja keine spezielle Übung dafür gab, wieso konnten sich die WingTsunler die letzten 30 Jahre trotzdem gut verteidigen?

Das liegt daran, dass wir – beziehungsweise ich – ja nie die ganze Partnerform am Stück unterrichtet haben, damit die Schüler sie einfach nur abspulen. Ich habe immer nur einzelne Stücke der Sektionen mit den Leuten trainiert und diese auch immer wieder variiert. Das kann jeder der alten Hasen bestätigen. Manchmal ging der Druck in Richtung Djam-Sao, manchmal auf Kao-Sao. Ich habe es also zufällig gemischt und dadurch auch den Tastsinn trainiert und ihn entscheidungsfähig gemacht. Deshalb ist der Tastsinn auch bei den alten WT-Pionieren besser ausgeprägt als heutzutage weltweit. Das beweist: Weniger ist mehr. Es geht nicht darum, möglichst viele Partnerformen tanzen zu können. Die gesamte Form an einem Stück zu unterrichten, ist wenig sinnvoll; denn der Einzelne hat dann nicht mehr die Möglichkeit, taktil zu entscheiden, weil alle Bewegungen schon vorgegeben sind. Es entsteht ein toter Ablauf anstelle lebendiger Bewegungen. Als ich diesen falschen Trend endlich bemerkte, änderte ich das Programm entsprechend und entwickelte ein spezielles Reaktionsprogramm, das ich ReakTsun nenne und das gezielt den Tastsinn als Organ der Entscheidungsfindung entwickelt.

Wenn man Dich beobachtet, wartest Du auf den Gegner, anstatt, wie in Deinen Büchern „BlitzDefence“ oder „Vom Zweikampf“ beschrieben, selbst anzugreifen. Wie passt das zusammen, wo genau ist da der rote Faden?

Wir unterscheiden im WingTsun zwischen Konzept, Prinzip und meinetwegen auch noch Mottos. Das Konzept ist das Übergeordnete, sozusagen der Blick von ganz oben. Das Konzept stammt immer aus dem Taoismus, ist also philosophisch. Wir sind eine taoistische Kampfkunst. Dieses Konzept ist zuständig für die Kampfstrategie und Kampftaktik im WingTsun. Strategie und Taktik lassen sich wieder einteilen in Prinzipien, die sich nach den Gegebenheiten der Natur richten: Wie ist der menschliche Körper aufgebaut? Und natürlich/außerdem nach den Gegebenheiten der Physik. Die Prinzipien sind also nicht nebulöser Art, sondern beruhen auf Tatsachen. Um dem Schüler das Verständnis der Prinzipien zu erleichtern, haben wir diese noch einmal herunter gebrochen: in kleine einfache Merksätze, die Mottos.

Es gibt also nur ein Konzept im WingTsun?

Ja, aber das kann man verschieden interpretieren. Für die Prinzipien haben wir als praktischen Satz den folgenden: „Nimm auf, was kommt, begleite nach Haus, was zurückgeht. Stoß vor, wenn der Weg frei ist.“ Das ist das Prinzip.

In Deinem Buch „Vom Zweikampf“ beschreibst Du die aggressive Vorwärtsverteidigung, aber in Deinen Seminaren stellt sich das heute anders dar. Wir stürmen nicht auf den Gegner zu, sondern warten ab. Warum?

Es kommt immer darauf an, auf welchen Teil des Prinzips ich meinen Schwerpunkt lege.
Die Angriffsstrategie setzt auf: „Ist der Weg frei, stoße vor.“ Die Verteidigungsstrategie legt den Schwerpunkt auf den anderen Teil des Prinzips: „Nimm auf, was kommt.“
Das Buch „Vom Zweikampf“ schrieb ich 1986 als vierter Technikergrad. Es ist die erste und sehr vereinfachte explikative Theorie von Kampfkunst, was das WingTsun-System betrifft. Davor waren alle Bücher eher beschreibender Art: Techniken wurden einfach nur aufgezählt. In „Vom Zweikampf“ habe ich WingTsun so vereinfacht dargestellt, wie ich es den Schülern zu ihrem damaligen Leistungsstand erklären konnte. Obwohl auch diese Darstellung bereits anspruchsvoll war. Wenn man will, kann man WingTsun in vier Stufen darstellen und für jede der vier Stufen ein Programm erstellen.

Wie genau würden die aussehen?

Das erste Programm wäre für Anfänger. Das zweite wäre die Übergangsphase vom Anfänger zum Fortgeschrittenen. Das dritte wäre dann der Fortgeschrittene. Und das vierte Programm wäre das Expertenprogramm für Meister. Die erste Phase ist logischerweise die einfachste. Dort starten wir mit den Techniken aus meinem Buch „Angriff ist die beste Verteidigung“.

Das ist das, was Du die „BlitzDefence-Programme“ nennst?

Ja, bei denen viele denken, es wäre ein eigener Stil, was nicht stimmt. Es ist einfach die Umsetzung des großen WingTsun-Prinzips für den Anfänger. Im Vordergrund steht hier der Teil „Ist der Weg frei, stoße vor.“ Das ist das Motto für die ersten drei Programme. Der WingTsun-Mann ist der Angreifer. In diesem Programm drücken wir dem Gegner unseren Willen auf. Wenn ich das Gefühl habe, dass es losgeht, dann greife ich an: Ich komme also dem, der gerade angreifen will, zuvor. Ich erkenne den Angriffswillen meines Gegenübers an seiner Körpersprache und an dem, was er sagt, und greife ihn deshalb an. Das ist das Programm, mit dem der Anfänger den meisten Erfolg hat. Das ist das Programm eins, dann folgt …

… aber warum braucht man denn noch weitere Programme, wenn das erste funktioniert?

Weil es sonst Probleme vor Gericht geben könnte. Das erste Programm funktioniert zwar sehr gut, ist aber leider nicht wirklich legitim. Der Aggressor hat für die Zeugen ja noch nichts getan, was unser Handeln nach außen hin rechtfertigt. Wir schlagen zuerst zu, was uns vor Gericht zwangsläufig in eine ungünstige Situation bringt.

Hast Du deshalb die Kommunikation und Deeskalation zum sonst nonverbalen WingTsun hinzugefügt?

Genau das war der Grund. Das erste Programm, das ich geschildert habe, ist eigentlich das klassische WingTsun-Programm, mit dem wir viele Jahre lang gegen alle Stile erfolgreich waren: Wenn der Gegner einen bestimmten Abstand zu uns unterschreitet und in unsere magnetische Zone eindringt – einen imaginären Kreis, den wir um uns ziehen – greifen wir ihn an und hören erst dann auf zu schlagen, wenn er k.o. ist. In einigen Ländern mag das so gehen, vielleicht auch in China. In Europa stößt das aber auf Probleme vor Gericht. Und wir wollen ja nicht nur die körperliche Auseinandersetzung gewinnen, sondern, falls nötig, auch die rechtliche. Aber – und das betone ich – für den Anfänger ist Angreifen die einzige Chance, sich erfolgreich zur Wehr zu setzen!

Wie geht es dann weiter?

Ab dem vierten Schülergrad folgen wir weiterhin dem Motto: „Mein Wille soll geschehen.“ Ich bin weiter aktiv und greife an. Der Unterschied ist aber, dass ich selektiv „Ja“ sage, wenn der Gegner in eine von vier Richtungen abwehrt. Also, im Programm 1 bis 3: Ich sage weder „Ja“ noch „Nein“ zu den Aktionen des Gegners, weil ich es erst gar nicht dazu kommen lasse. Ich greife an, bevor er reagieren kann.

… ganz nach „BlitzDefence – Angriff ist die beste Verteidigung“ …

Ja, ich greife präventiv an, denn nur so kann der Anfänger sich verteidigen. Du kannst nicht direkt mit Nachgeben beginnen, dann bekommst Du sofort etwas auf die Nase. Aber in den nächsten drei Programmen verfolge ich die Idee wie in meinem Buch „Vom Zweikampf“: Ich greife den Gegner zwar in seinen Angriff hinein an, bin aber kooperativ, wenn er meinen Angriff aufhält. Hier haben wir dann die vier sog. Reflexe: Bong-, Tan-, Djam- und Kao-Sao. Lasse ich mich bei den ersten drei Programmen auf nichts ein, was der Angreifer macht und setze nur meinen eigenen Willen durch, so lasse ich ab dem vierten Programm in vier Richtungen den Willen des Angreifers zu – ich gebe nach. Ich sage erstmals „Ja“ zu dem, was er tut. Ich verweigere mich nicht, sondern lasse dem Aggressor seinen Willen, wenn auch, wie gesagt, nur in vier von mir festgelegten Richtungen: Bong-Sao, Tan-Sao, Djam-Sao, Kao-Sao. Und dann gehe ich wieder zum Angriff über.

Wie trainiert man das?

Man greift den Gegner in seinem Zentrum an und zwar so, dass der Gegner abwehren muss, um nicht getroffen zu werden. Der Trick ist, dass ich dem Gegner durch meine Positionierung nur ein oder zwei Möglichkeiten lasse, mich abzuwehren. Ich forciere, zwinge ihm also durch meine Art des Angriffs ein oder zwei Antworten auf, möglichst sogar nur eine Antwort. Dadurch weiß ich dann, was er machen wird. Ich kann also einen Zug im Voraus planen. Manche vergleichen WingTsun mit Schach; meist stimmt es nicht, aber in diesem speziellen Fall ist das zutreffend.

Soll der Schüler also den anfangs mangelnden Tastsinn durch geschickte Taktik ausgleichen?

Richtig ist es, dass dazu nicht der Tastsinn nötig ist, den wir für unser Endziel benötigen. Es handelt sich lediglich um eine Vorstufe des WingTsun-mäßigen Reagierens. Für den Meister muss es völlig egal sein, wo der Gegner hindrückt. In den Programmen drei bis sechs ist es erst einmal nur ein selektives Nachgeben – wir schränken die Möglichkeiten des Gegners ein. Insofern stimmt es, dass wir taktieren.

Die Techniken, die der vierte bis sechste Schülergrad nutzt, um anzugreifen, sind die gleichen wie in den ersten drei Programmen?

Total richtig. Er macht die gleichen Angriffe, aber lässt sich dabei behindern. Deshalb muss er mit den vier Reflexen oder Verformungen reagieren.

Die Programme 4 bis 6 arbeiten also nach dem Konzept aus „Vom Zweikampf“, setzen aber die bekannten „BlitzDefence“-Techniken ein, anstatt mit Man-Sao/Wu-Sao und im IRAS  vor dem Gegner zu stehen.

Wenn ich Großmeister Yip Man betrachte, von dem es Originalfotos gibt, die ihn im Kampf zeigen, sehe ich deutlich, dass er nicht im IRAS steht, sondern einen Fuß vorne hat. Ich würde immer, wenn der Gegner bereits in meiner Nähe ist, einen Fuß nach vorne nehmen, sonst tritt man mir vielleicht zwischen die Beine. Der IRAS ist als Vorkampf-Stand nur geeignet, wenn der Gegner weit von mir entfernt steht. Nähert er sich, nehme ich einen Fuß vor. Und was Man-Sao/Wu-Sao oder die sog. „Pointing Fingers“-Position anbelangt, so riecht sie mir zu sehr nach Kung-Fu und könnte vom Richter als Einverständniserklärung zu einer Prügelei ausgelegt werden.

Was folgt nach dem 6. Schülergrad?

Dann kommen wir in die dritte Abteilung. Hier liegt der Schwerpunkt auf dem zweiten Teil des Prinzips: „Nimm die Kraft des Gegners auf (bleibe an ihr dran, wenn sie auf Dich zukommt), folge ihr, wenn sie zurückgeht.“ Das bietet viele Vorteile. Wir brauchen weniger Vorwärtsdruck als bei den Angriffsprogrammen. Wir müssen auch nicht sonderlich schnell sein, was eine Voraussetzung für die Angriffsstrategie ist, denn jetzt borgen wir die Schnelligkeit vom Gegner. Unser Ziel ist es größtenteils zu kooperieren. Ich bin als Reagierender schneller als der Angreifer, indem ich dem „Gesetz des Nobelpreisträgers Niels Bohr“ für Revolvermänner folge: „Wer zuletzt zieht, gewinnt.“ Ich beschreibe dieses Programm u.a. in meinem Buch „Der Letzte wird der Erste sein“. Ich versuche dem Gegner am Anfang, wo seine Kraft in der Entstehung ist und ich ihn noch lenken kann, meinen Willen aufzudrücken. Bin ich aber dafür zu langsam, dann versuche ich, mich seinem Willen zu beugen. Das heißt, meine Arme beugen sich buchstäblich seinem Willen, damit er sich selbst die Niederlage bereitet. Das geht nur durch ausgiebiges taktiles Training. Dafür haben wir ReakTsun.

Wann genau lernt man das?

In den Schülergradprogrammen 7 bis 12.

Der 7. Schülergrad beginnt also mit dem Verteidigungskonzept. Was soll dieser tun, wenn er tatsächlich angegriffen wird?

Angreifen natürlich! Der Schüler begibt sich anfangs auf einen Weg. Wenn er die Übungen beherrscht, kann er sie auch praktisch einsetzen. Bekommt er es mit der Angst zu tun, fühlt sich unsicher oder dergleichen, hat er immer noch sein Angriffs-WingTsun. Das hat er vorher gelernt, das nimmt ihm keiner mehr. Er muss sich nur bewusst machen, dass dies nicht das komplette, nicht das taoistisch kooperative WingTsun ist. Für die Selbstverteidigung mag das ausreichen, meisterliche Kampfkunst ist das noch nicht.

Das wiederum folgt in der letzten Phase?

Ja, dann kommt das Experten-Programm, das das Idealziel verfolgt. Man muss wissen, dass WingTsun wie ein großes umfangreiches Studium angelegt war/ist. Es hatte keine Zeitnot. An diesem Programm kann man ein Leben lang arbeiten. Das Ziel für den Meister ist, dass er allen WingTsun-Prinzipien folgt. Wer noch nicht so weit ist, der kann nur einzelnen Prinzipien folgen und muss andere zwangsläufig vernachlässigen. Wer aber eine komplette WingTsun-Ausbildung genossen hat, kooperiert immer mit dem Gegner.

Inwieweit ändert sich dadurch der WingTsun-Unterricht?

Es gibt neue Inhalte, wie beispielsweise ReakTsun. Und wir werden ein definiertes Programm für den Bodenkampf und gegen Ringer einführen, das mein Schüler Victor Gutierrez aufgrund seiner großen Erfahrung in diesem Bereich definiert und erfolgreich erprobt hat. Das sind die modernen Teile des Unterrichts. Weiterhin wird es unverändert das traditionelle WingTsun geben: Natürlich üben wir weiter/nach wie vor unsere Solo-Formen. Auch unsere Partnerformen haben ihren Stellenwert im System. Im Gruppentraining wird es weiterhin auch Konditions-, Kräftigungs- und Gesundheitsübungen geben, die weniger der Selbstverteidigung, dafür aber dem Wohlbefinden dienen. Am traditionellen Teil soll nichts geändert werden, aber wir werden speziell den selbstverteidigungsrelevanten Teil optimieren. Wir dürfen nicht vergessen, dass bei den Chinesen die Selbstverteidigung ein Nebenprodukt des WingTsun-Trainings ist. Sie handeln nach dem bekannten Satz: „Der Weg ist das Ziel.“ Deshalb greifen sie sich gegenseitig auch immer mit vertikaler Faust und tiefem Ellbogen an. Sie üben WingTsun gegen WingTsun, was nicht sonderlich realistisch ist, denn der Angreifer wird uns nicht mit den WT-typischen geraden Bewegungen attackieren. Er wird kurvig angreifen, Haken oder Schwinger austeilen, uns an die Beine springen oder versuchen, uns zu greifen. Wir Europäer, nicht zuletzt die Deutschen, haben das Ziel fest im Blick. Deshalb richten wir unser Training auch darauf aus. Ich sehe WingTsun als meinen Knecht, für mich ist es Mittel zum Zweck. Ich mache im Kampf um Leben und Tod keine Bewegungen der Tradition willen. Meine Idee war immer die bestmögliche Selbstverteidigung. Und wir haben stets unsere Programme verbessert; ich erinnere nur an die Einführung des Pak-Sao-Spiels und an BlitzDefence. Auch das waren keine überlieferten asiatischen Übungen, aber sie helfen dem Schüler, also üben wir sie.

Interview: André Karkalis
Fotos: Markus Gensichen

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