Editorial

WT und Grappling

Da meine Forschungen sich zurzeit mit dem Weg zum Inneren WingTsun beschäftigen, habe ich Großmeister Oliver König, der sich seit Längerem zusammen mit DaiSiFu Thomas Schrön, eingehend mit dem Thema „Grappling“ und seinem Stellenwert in der WingTsun-Selbstverteidigung befasst, gebeten, ein Gasteditorial zum Stand der Dinge zu schreiben.

Meister S. Saladinov mit GM Oliver König

Im traditionellen Wing Tsun (Wing Chun, Ving Tsun) nehmen das Werfen und der Bodenkampf eine untergeordnete Rolle ein.
Bei dieser Aussage werden manche den Kopf schütteln und einwenden, dass es doch folgende Inhalte im WT gibt: ChiGörk mit Würfen und Gegenwürfen, Fallschule, Treten aus der Bodenlage.

Erfahrungsgemäß sind jedoch die traditionellen Solo- und Partnerformen und Techniken-Kombinationen auf diesem Gebiet nicht sehr ergiebig.
Deshalb haben sich viele Wing Tsun (oder auch Wing Chun, Ving Chun etc.)-Vertreter bei anderen Stilen bedient – teils ganz offen, teils werden die fremden Techniken als authentischer Bestandteil von Yip Mans Stil verkauft.

Sambo-Spezialist S. Saladinov beim Unterricht

Man muss sich nicht dafür entschuldigen, dass man das Rad nicht völlig neu erfinden will. Auch das ca. 300 Jahre alte Wing Tsun-System fiel nicht komplett fertig vom Himmel und wurde auf Gesetzestafeln vorgelegt. Wing Tsun ist nicht fertig und unser WT wird es hoffentlich auch nie sein.

Ringen am Strand von Teneriffa: Prof. Dr. V. Margaritov mit DaiSifu T. Schrön

So haben auch wir in der EWTO uns mit dem Bereich befasst. GM Kernspecht schon in den 1960er Jahren in Form von Ringen, Judo, Jiu Jitsu und Catchen. Ich selbst übte schon in jungen Jahren auf Schloss Langenzell Ringertechniken, um zu lernen, wie man sich am Boden bewegt und wie man sich erfolgreich dagegen wehrt.

JuJutsu-Experte E. Reinhardt unterrichtet im Rahmen des Bachelor-Studiums in Heidelberg

GM Prof. Keith R. Kernspecht hat immer schon den Kampf in fünf Distanzen (Tritt-, Fauststoß-, Ellbogen- bzw. Knie-, Rangel- bzw. Wurf- und Bodenkampfdistanz) unterrichtet. Er hat auch ganz offen erklärt, dass z.B. das Programm „Sanfte Mittel“ (Überwältigen des Gegners, ohne ihn zu verletzen) nicht in das traditionelle WingTsun-Programm, das er in Hongkong kennengelernt hatte, gehört, sondern dass es aus anderen Stilen, die er vorher praktizierte, entlehnt worden ist.
Andere ziehen sich auf den Standpunkt zurück, dass man im Wing Tsun traditionell nicht auf den Boden geht und deshalb der Wing Tsun-Kämpfer auch keinen Bodenkampf oder Anti-Bodenkampf benötigt.

Judo- und Sumo-Meister A. Schnabel zeigt eine Wurftechnik mit DaiSifu Schrön

In der EWTO haben wir jedoch den Anspruch, dass wir WT als vollständige Selbstverteidigung unterrichten, deshalb muss dementsprechend das Kämpfen in der Horizontalen, also der Bodenkampf, enthalten sein. Das perfekte Selbstverteidigungs-System ist nicht ein Stil, sondern eine Kombination aus verschiedenen Meilensteinen, Trainingsmethoden etc., die unter allen Bedingungen funktionieren muss.

Nun habe ich den Vorteil, dass mein Mentor und Lehrer, GM Prof. Keith R. Kernspecht, selbst schon sehr viele Stile erlernte bzw. sich mit ihnen beschäftigte (Judo, JuJitsu, Aikido, Karate, Taikiken Kempo, WingChun, WingTsun, Thaiboxen, Escrima, Sumo und verschiedene innere Stile) und dass er uns ermunterte, uns mit den besten Experten im Sambo, Bodenkampf und Grappling weiterzubilden, um auch diese Lücke im WT zu schließen.

Schon im letzten Jahrhundert experimentierte er mit Prof. Veselin Margaritov, der damals zum Trainerteam der bulgarischen Ringer-Nationalmannschaft gehörte. Er setzte sein ChiSao gegen Ringen ein, stellte Vergleiche an und machte Teile der WT-ChiSao-Methode den Ringern zugänglich, die daraufhin zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder Europameister wurden. Irgendwo kursiert ein Video im Netz, in dem es Auszüge gibt, in denen GM Kernspecht mit viel Spaß mit einem Ringerweltmeister im Stand trainiert. In Verbindung mit dem ChiSao entwickelte er später ChinNa-Techniken zum Hebeln, Werfen usw. Auf den Boden legen mochte er sich aber nicht mehr.

Unser SiGung GM Leung Ting sagte einmal: „Wenn ich einen besseren Stil als meinen eigenen fände, erlernte ich diesen!“ Was zeigt, dass wir uns im WingTsun nicht der Tradition, sondern der reinen Funktion verpflichtet fühlen.
In der WingTsun-Geschichte wurde auch der Langstock aus einem anderem Stil entlehnt (Weng Tsun – Weißer-Kranich-Stil). Erst erlernten unsere Wing Tsun-Vorfahren den Stil, dann modifizierten sie ihn so, dass er unseren WingTsun-Prinzipien entsprach.Nach einem Exkurs zu verschiedenen Grappling-Stilen, wie z.B. Ringen, Sambo, Judo, Sumo und BJJ, kam ich zu dem Schluss, dass sehr viele Grappling-Techniken schon im WingTsun stecken, diese aber nicht erfolgreich unterrichtet werden: meist wegen fehlender Trainingsmethodik oder weil man oft – wie eine Gliederpuppe – nur mit den Armen arbeitet, statt mit dem gesamten Körper – also mit Rumpf, Beinen etc.– wie es beim Grappling bei Würfen, bei Gegenwürfen, beim Verhindern von Würfen und beim Bewegen am Boden unerlässlich ist.

Budo-Legende Kaicho Jon Bluming unterrichte während der Bachelor-Studienwoche in Heidelberg

Aus historischer Sicht glaube ich, dass es auch in China, wie fast überall auf der Welt, Ringermethoden gab, aus denen sich dann verschiedene Kampfkünste entwickelten oder die zumindest verschiedene Kampfkünste beeinflussten.
Was das Wing Tsun in Fatshan angeht, so mag es sein, dass in dieser spezifischen Gegend vor allem Stile vorherrschten, die ähnlich strukturiert waren wie Wing Tsun: relativ hoher aufrechter Stand, tiefe Ellbogen, zentrale Fauststöße, irgendwie klebrige Arme usw.

Zusammenstöße mit Vertretern der ringenden Zunft, insbesondere mit Bodenkämpfern, standen nicht auf dem Tagesplan. Selbst in Kanos Judo, das er aus dem JuJitsu entwickelt hatte, gab es anfänglich keinen Kampf am Boden. Jigoro Kano, der Schöpfer des Judo, sprach verächtlich davon: Der Mensch solle gefälligst aufrecht stehen und sich nicht am Boden herumwinden wie ein Reptil.
Die Ästhetik des Geradestehens wurde über die Funktionalität gestellt. Es gab keinen Bedarf an der Entwicklung von (Anti-)Boden-Techniken, weil man nicht am Boden kämpfte.


Was ist Grappling?

GM Gene LeBell zeigt DaiSifu T. Schrön eine Hebeltechnik

Aber was ist überhaupt „Grappling“? Ich möchte hier eine Definition von Wikipedia verwenden:
„Grappling (Griffmethoden, Griffkampf) ist ein Element vieler Kampfsportarten und beinhaltet Hebel, Würfe, Zu-Boden-Bringen, Aufgabegriffe, Würgegriffe und andere Haltegriffe jeglicher Art. Die verschiedenen Techniken haben zum Ziel, den Gegner in eine für ihn unvorteilhafte Position zu bringen und ihn anschließend bewegungsunfähig zu machen und/oder zur Aufgabe zu zwingen.“

WingTsun-ChiSao richtig ausgeführt, kann auch schon zum Grappling gezählt werden, aber meist wird es nur in einem begrenzten Bereich ausgeführt (nicht über alle fünf Phasen) und auch mit der falschen Methodik trainiert. Choreographierte Partnertänze und das Üben von vorgefertigten Technikabläufen führen hier nicht zu Ziel und geben vielen die Illusion, das Chaos eines richtigen Kampfes zu kontrollieren.
Der Erfolg hängt also nicht zuletzt von der richtigen Unterrichtsdidaktik ab.


WingTsun-Studium und mein Weg zum Grappling

Kaicho Jon Bluming unterrichtet GM Oliver König und DaiSifu Schrön im Bodenkampf

Im Rahmen unserer akademischen Kampfkunst-Studiengänge mit der Universität Plovdiv/BG und der Universität Derby/Buxton haben wir uns u. a. mit den verschiedensten Stilen auseinandergesetzt, auch mit einigen Grappling-Stilen wie Judo, Sambo, Ringen, JuJitsu, Sumo, dem All-Style-Fighting-System von Kaicho Jon Bluming und dem chin. Chi Na. Natürlich durfte der Vergleich mit den im WingTsun vorhandenen Greif-, Wurf-, Hebel-, Würge- und Bodentechniken nicht fehlen.

Wir luden also Experten aus den verschiedenen Stilen ein, und ich näherte mich der Materie immer intensiver. So lehrte uns Stojan Saladinov, der damalige bulgarische Cheftrainer der Spezialeinheit gegen Drogen und Bandenkriminalität, Sambo. Prof. Veselin Margaritov, ehemaliger Nationaltrainer für Ringen in Bulgarien, zeigte uns, wie gute Profis trainieren und welche Techniken sie verwenden. JuJutsu-Experte Erich Reinhardt wies uns in die Biomechanik seines Stils ein. Judoka und Sumo-Experte Arthur Schnabel (Bronze-Medaille Judo bei den Olympischen Spielen in Los Angeles 1984, mehrfacher Europameister im Judo und Sumo), gab uns Einblicke in Judo und Sumo. Budo-Legende Kaicho Jon Bluming unterrichtete uns in seiner Bodenkampf-Methode, die er aus dem, was er von Opa Schutte, Don F. Draeger und z.T. Mifune gelernt hatte, entwickelte.


Weitere Forschungen

Nach dem Privatunterricht mit GM Gokor Chivichyan

Mein Kollege und Freund Thomas Schrön und ich machten uns schon seit einiger Zeit Gedanken, wie wir das Training im Bereich (Anti-)Bodenkampf, Werfen etc. verbessern konnten. Besonders interessierten uns die Trainingsmethoden der verschiedenen Stile und Experten. Wir waren immer auf der Suche nach den effektivsten Methoden in jenem Bereich und wurden schließlich aufgrund von Kaicho Jon Blumings persönlicher Empfehlung an die Grappling-Legende „Judo“-Gene LeBell überwiesen. Da wir uns mit der Theorie nicht zufrieden geben wollten, beschlossen wir, uns praktisch zu bilden und unternahmen zusammen eine mehrwöchige Bildungsreise in die USA, um direkt bei GM Gene LeBell und seinem Meisterschüler GM Gokor Chivichyan zu lernen.

GM Gene LeBell erklärt das richtige Greifen beim Grappling

Sensei Gokor war in seiner aktiven Zeit in über 400 Kämpfen ungeschlagen. Das System von GM LeBell und GM Gokor Chivichyan ist eine Mischung aus Catchen, Judo, Sambo usw. Es gibt nicht das übliche Regelwerk, welches die einzelnen Stile beeinflusst. Aus der gemeinsamen Schule sind schon zahlreiche sehr erfolgreiche Meisterschüler hervorgegangen, wie z.B. Ronda Rousey, ungeschlagene UFC-Kämpferin, Karen Darabedyan, einer der besten Grappler der Welt, Karo Parisyan, Manvel Gamburyan und viele weitere Champions.

So trainierten wir täglich mehrere Einheiten bei Sensei Gokor und seinen Profis. Manchmal schneite auch die Budo-Legende Gene LeBell herein und nahm Korrekturen vor oder zeigte eine seiner Grappling-Anwendungen.
Unser Anspruch, eine Methode zu finden, die kompatibel mit den Charakteristiken unseres WT sein muss, wurde mehr als erfüllt!
Aber nicht nur die ausgeklügelte Technik, sondern auch die Methodik des Trainings war sehr interessant.

Wir fanden bei Sensei Gokor und seinen Schülern mehr als eine weitere Sportart des Grapplings. Wir wurden dort in die Familie der Profis und Amateure herzlich aufgenommen und Sensei Gokor hat sich herzlichst um uns gekümmert! Wir streben zukünftig eine engere Zusammenarbeit an. Details der Kooperation folgen Stück für Stück …
 

Gruppenbild nach dem Training: in der Mitte Sensei Gene LeBell und Sensei Gokor Chivichyan, direkt daneben Thomas und Oliver


Umsetzung unserer neuesten Erkenntnisse

Unsere neuesten Erkenntnisse wollen wir natürlich nicht für uns behalten. Wir sind dabei, die Trainingsmethoden für unsere WT-Selbstverteidigung zu adaptieren, die technische Seite zu ordnen und zu überlegen, wo wir sie logisch und harmonisch in den Unterrichtsprogrammen platzieren können. Ein Programm für die Horizontale, also den Boden, ist unerlässlich, aber es muss übersichtlich und logisch unterrichtet werden können.

Zum Teil haben wir schon Bruchstücke im Unterrichtsprogramm für Schüler, aber es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass dies nicht zielführend ist.
Ein solches Programm soll allerdings ein zusätzliches Angebot darstellen. Es wird aber nicht verpflichtend für Prüfungen sein, da manche Schüler aus gesundheitlichen Gründen gar nicht am Boden kämpfen können oder wollen.

Ziel ist es nach wie vor, den Kampf am Boden in der Selbstverteidigung zu vermeiden. Aber wenn es dazu kommt, sollte jeder WT-ler bestens gewappnet sein! Auf einigen Seminaren und auch während der Bachelor-Präsenzunterrichtswoche haben DaiSifu Thomas Schrön und ich schon Ausschnitte aus dem Programm unterrichtet, was zu durchweg positivem Feedback führte.

Wir bleiben am Ball und werden weiterhin von Zeit zu Zeit Aktuelles berichten und natürlich auf dem Internationalen Lehrgang auch wieder in einer entsprechenden Einheit unterrichten. Wir sehen uns!


Gasteditorial von GM Oliver König