ChiKung

Wege des Lernens

Oder auf Englisch: „Learning how to learn.“ Darüber haben sich schon viele kluge Leute Gedanken gemacht. Es wurden die verschiedensten Methoden entwickelt, die den Einstieg ins Lernen erleichtern und angenehmer und effektiver machen sollen. Auch im WingTsun, Escrima und ChiKung gibt es ständig etwas Neues zu lernen. Was sollte uns dabei bewusst sein…

An den Anfang möchte ich dazu ein Zitat stellen:

Beschreibe etwas, und ein Viertel der Leute wird es verstehen.
Zeige etwas, und die Hälfte der Leute wird es verstehen.
Beschreibe etwas, während du es zeigst, und drei Viertel der Leute werden es verstehen.
Beschreibe etwas, zeige es und ermuntere die Leute, ihr Wissen unmittelbar anzuwenden, und neun von zehn Menschen werden es verstehen.

Deng-Ming-Dao

Zu wissen, wie man lernt, ist wichtig in allem, was wir tun: im ganzen Leben und im WT, ChiKung, Escrima usw.

Unter Lernen verstehe ich in diesem Fall nicht das Anhäufen von Informationen oder Daten, sondern das Aufnehmen und Verdauen aller Bestandteile, die notwendig sind, um etwas zu verdauen und damit zu verstehen.

Um eine Sache zu lernen, muss man oft viele Male mit ihr konfrontiert werden. Vielleicht auch aus verschiedenen Perspektiven mit unterschiedlichen Sichtweisen. Außerdem muss man ihr die Art von Aufmerksamkeit widmen, die einem das Lernen ermöglicht.

Wo liegt nun der Grund, dass wir nicht den Lernfortschritt erzielen, den wir erreichen könnten. Nehmen wir zum Beispiel das Lesen. Dort stellt sich die Frage: „Wieso ziehen wir aus Büchern vielleicht nicht den Nutzen, den wir aus ihnen ziehen könnten?“ Antwort: „Wir lesen selektiv!“
Das gibt natürlich das Gefühl von Sicherheit, bestätigt Erfahrungen usw. Man erinnert sich an Dinge, die einen emotional berühren, die einem gefallen oder die einen fesseln. Man will sich nur in diese weiter hinein vertiefen.

Lernen hat aber mit dem Loslassen von Altem und Sich-Einlassen mit Neuem zu tun. Es beinhaltet also das Gegenteil von Kontrolle und Sicherheit. Es hat damit zu tun, sich nicht auszukennen und an eine Sache unvoreingenommen heranzugehen.

Wir beschäftigen uns mit allem auf die gleiche Weise, in den gleichen Mustern. Aus diesem Grunde erkennen wir auch immer nur dieselben Muster – nicht weil diese in den Ereignissen vorhanden sind, sondern weil wir sie mit diesen betrachten.

Diese Dinge sind aber äußerst selten die, die man wirklich braucht. Eine unausgeglichene Haltung den Dingen gegenüber erfordert also zuerst einmal, dass man selbst eine gewisse Ausgeglichenheit (Balance) erreicht. Sind wir zu sehr aus dem Gleichgewicht, lernen wir nicht, was wir glauben zu lernen, sondern suchen verzweifelt Gleichgewicht.

Wenn wir zum Beispiel eine Schokoladentorte haben, die mit 12 Kirschen verziert ist, und ich schlinge nur alle Kirschen hinunter, weil ich Kirschen so gern esse, und dann aber wissen will, warum ich die Torte nicht gegessen habe – wie nennt man das?

Das ist die Barriere, die wir beim Lernen überwinden müssen. Um hinüber zu kommen, muss man sie in ihrer konkreten Auswirkung wahrnehmen. Man muss beschließen, sich zu überwinden und anfangen, umfassend zu studieren, statt es nur zu behaupten und sich dann zu wundern, warum man kaum lernt.

Lernen hat aber immer auch mit Veränderung zu tun: Etwas mit anderen Augen betrachten. Etwas neu sehen. Etwas von einer anderen Seite sehen. Immer wieder neu an etwas herangehen, so als ob man das erste Mal mit ihm in Berührung käme oder es zum ersten Mal machen würde. Immer wieder neue Wege finden, etwas zu betrachten oder sich zu bewegen.

Dies können wir im WT, ChiKung und Escrima wunderbar üben. Jede Übung jedes Mal als Gelegenheit betrachten, sich neu auf eine Situation einzulassen. Als würde man sie das erste Mal machen. Und eigentlich ist es auch so. Es ist immer neu, nie das zweite Mal. Immer dieser eine Augenblick, den wir für eine neue Erfahrung nützen oder verstreichen lassen können, indem wir ihn mit Gewohnheit füllen.

Ans Ende möchte ich noch ein altes Zitat stellen:

Drei Dinge sind unwiederbringlich:
Der vom Bogen abgeschossene Pfeil,
Das in Eile gesprochene Wort.
Die verpasste Gelegenheit.

Ali ibn Abi-Talib (6. Jh.)
genannt Ali aus Mekka, Vetter und Schwiegersohn Mohammeds
4. Kalif der Schiiten, Nationalheiliger

Text: Alfred-Johannes Neudorfer