WingTsun

Rangierzug, VHS, WingTsun-Laufbahn

Das erste und entscheidende Mal, dass ich mit WingTsun in Berührung kam, war an einem kalten und verschneiten Tag im Februar 1994.
Nach dem Ende meiner Schul- und anschließenden Lehrzeit, war ich, neben dem Arbeiten, intensivst damit beschäftigt, die richtige Freizeitbeschäftigung für mich zu finden.
Fitnessclub und Bogenschießen brachten mir nicht das, wonach ich suchte. Karate, Judo oder Kung-Fu waren Begriffe, die mir vertraut waren. Auch Bruce Lee, Chuck Norris oder Jackie Chan kannte ich. Sie waren jedoch eigentlich nur Kinostars, deren Können mir unheimlich und wie aus einer anderen Welt vorkam.
Also kurzum: für mich nicht in Frage kommend…

Eigentlich wusste ich gar nicht, was ich suchte, ich wusste nur, was ich nicht suchte. So ließ ich mich treiben und wartete wie ein Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel darauf, dass endlich das rettende Schiff am Horizont auftauchte und Kurs auf mich hielt.
 

Volkshochschule

Schuld an meiner Liebe zum WingTsun war dann meine Schwester; denn sie war es schließlich, die mich dazu brachte, einmal mit zu einem VHS-Selbstverteidigungskursus zu kommen, den sie besuchte.
Nach einigen „Ich komm‘ mal mit“ war es soweit. Als völlig Unwissender – ich hatte mich bis dahin überhaupt nicht eingehender mit Kampfkünsten beschäftigt – trat ich in diese große und aufregende Welt ein.
Und was sah dieser kampfkunstjungfräuliche Mensch als allererstes? NukSao!!! (Anm. d. Redaktion: Heute wird der aufgrund eines Übersetzungsfehlers entstandene Begriff nicht mehr verwendet.)
Zwei Schüler waren dabei, diese Übungsfolge zu trainieren. Wie ein Blitz traf mich die Erkenntnis: „Das will ich auch machen!!!“
So begann meine Reise, die nie vorbei sein wird, durch das EWTO-WingTsun.

Ich gebe zu, dies ist bis hierher keine sehr packende Story und vermutlich wird es auch nie ein Ende geben. Warum also dieser Artikel?

Zu meiner Verteidigung: Ich gehöre nicht zu den Menschen, die der Meinung sind, mit Anfang-/Mitte Zwanzig ihre Memoiren schreiben zu müssen, um den Rest der Menschheit an ihrem bis dahin so aufregenden Leben und den daraus resultierenden Erfahrungen teilhaben lassen zu müssen. Aber ein kleines bisschen anders ist meine WingTsun-Geschichte schon…
 

Rangierzug

… aufgrund eines Unfalls vor 36 Jahren mit einem Rangierzug: Ich war der Meinung, auf dem Nachhauseweg von der Schule eine Abkürzung nehmen zu müssen. Das nicht nur einmal, aber eben einmal zu viel! Dabei verlor ich mein rechtes Bein komplett (einschließlich des halben Beckens). Hemipelvektomie war der erste lateinische Begriff, den ich zwangsläufig lernen musste.
Viele und sehr zeitintensive Krankenhausaufenthalte in Ulm und Heidelberg folgten, wo 1978 auch eine erste prothetische Versorgung mit einem großen, schweren und nicht leicht handelbaren Trum namens kanadisches Exbein stattfand. Von meiner heutigen Versorgung Welten, um nicht zu sagen, Galaxien entfernt!

Doch hier geht es nicht um eine Krankengeschichte, sondern darum, wie sehr mich WingTsun fasziniert und wie ich trotz meines körperlichen Handicaps damit zurechtkomme.
 

WingTsun-Laufbahn

Nachdem ich erfahren hatte, dass ich sogar Techniker (höherer Grad) werden könnte, und eines Tages auch Meister, machte ich mich an die Arbeit (harte Arbeit) dieses Ziel zu erreichen. Aktuell bin ich auf dem Wege zum 4. HG.
Ein bisschen Hartnäckigkeit und Durchhaltevermögen sollte man schon an den Tag legen, denn WingTsun bietet jedem die Möglichkeit, sich entsprechend seiner eigenen Stärken und Vorzüge zu entfalten. Es verlangt aber auch eine Menge von demjenigen, der es erlernen möchte (und dies letztendlich auch lernen darf !!!)

Schnell wurde deutlich, was in Bezug auf Schrittarbeit und Tritte machbar ist bzw. was nicht. Doch was nicht passt, wird passend gemacht. Es gibt für jedes auch noch so groß erscheinende Problem immer, und ich meine wirklich immer, eine passende Lösung.

Nachdem ich mit meiner ersten Ausbilderin etwas Pech hatte und mich in den darauf folgenden Jahren allein mit entsprechenden Aufenthalten auf Schloss Langenzell und in der Nähe stattfindenden Lehrgängen mehr schlecht als recht durchschlug, begegnete ich, gerade als ich aufgeben wollte, meinem heutigen Lehrer Sifu Seibold Bodo (5. MG). Getreu dem Motto: „Wenn der Schüler soweit ist, erscheint der Meister.“
Er hat sich mit sehr viel Geduld und Spaß meiner angenommen. Seiner Ausbildung verdanke ich meinen heutigen Stand. Auch gelegentliche Lehrgänge bei Großmeister Kernspecht helfen mir, mein Bild vom WingTsun nach und nach zu vervollständigen.

Interessanterweise lösen sich alle anfänglich aufgetretenen Schwierigkeiten immer mehr in nichts auf, da sie eigentlich gar nicht auftreten können (zunehmende Rücknahme der inneren Angespanntheit). Diese werden jedoch fast zeitgleich von anderen, mir anfänglich als fast unüberwindbar scheinenden Hindernissen, wie z.B. die Prinzipien der Holzpuppe, ersetzt.

Stabil sein und doch anpassungsfähig bleiben, einsetzen des Körpers ohne seine „Box“ zu verlassen, im richtigen Moment (Timing) einen Treffer mit und durch Einsatz der Schwerkraft setzen. Klingt logisch, ist effektiv und sehr nützlich, sobald es beherrschbar ist. Davor tritt auch wieder ein Denksatz in den Vordergrund: Versuch macht kluch.
 

Mein eigener Bodyguard

Selbstverteidigung, vor allem wenn sie effektiv ist, ist in der heutigen Zeit aktueller denn je.
Sicherheitskräfte können nicht immer und überall sofort zur Stelle sein. Eine flächendeckende Kampagne, getreu dem Motto des Flyers „Werde Dein eigener Bodyguard“, den ich in Küsnacht sah, wäre aus meiner Sicht sehr wünschenswert.

Bis zum heutigen Tage wurde ich, glücklicherweise, noch nie angegriffen, was bei Personen, die nicht so viel Glück hatten, zu Recht die Aussage zulässt: „Der hat gut reden!
Ausgeguckt wurde ich jedoch schon einmal. Doch da war mir Fortuna hold, denn ich war nicht allein unterwegs und die Glotzer waren nur zu zweit.

Beklemmend und etwas angsteinflößend war es allemal. Ein richtiger Klassiker: zwei Herren, optisch sehr muskulös, sehr (wirklich sehr) wenig Haare und entsprechendem Schuhwerk. Ich in einem Telefonladen und die beiden, mich immer wieder fixierend, draußen sitzend. Erst als sie merkten, dass ich nicht allein unterwegs war (Bruder und Schwager), verloren sie allmählich das Interesse an mir und setzten ihren Stadtbummel fort. Ich gebe zu, dass diese Situation eventuell völlig harmlos und von mir nur falsch wahrgenommen wurde. Vielleicht kreuzten die beiden nur rein zufällig meinen Weg und ich war fälschlicherweise der Meinung, unter Beobachtung zu stehen. Unangenehm war die Situation in jedem Fall.
Aber was machst du gegen zwei Angreifer, wenn du mit einem Bein und Unterarmstützen in Ulm unterwegs bist? Ganz klar: WT!

Damals hatte ich bei Weitem noch nicht den Stand von heute und meine Ausstrahlung war noch eine andere, aber ich hätte mich wenigstens zur Wehr setzen können. Ob es gereicht hätte ? Ich wäre zumindest kein pflegeleichtes Opfer gewesen!

Leider ist es mir bis heute noch nicht gelungen andere Prothesenträger, z.B. auf meiner jährlichen Reha, dazu zu bringen, einmal etwas ganz anderes zu machen. Aber auch mein Prothesenhersteller, Orthopäde und Physiotherapeuten haben noch nicht richtig angebissen. Sie finden zwar das, was ich mache, ganz toll und sind von der Art, wie ich mich bewegen kann, beeindruckt, haben aber bislang noch nicht angefragt, ob man dies in einem entsprechenden Rahmen vorführen könnte. Was nicht ist, kann ja noch werden.

Alles in allem lerne ich WingTsun ja nicht, um damit anzugeben, sondern für mich persönlich – für mein Selbstwertgefühl, meine Verteidigungsfähigkeit und die Tatsache, dass es sich immer lohnt, an sich selbst zu arbeiten.
 

Was hat sich denn für mich durch das Erlernen von WingTsun geändert?

Körperbewusstsein:



 

 

Der tägliche Umgang mit meiner Prothese (Spannungsaufbau im Beckenbereich) hat sich wesentlich verbessert. Mein Gleichgewichtssinn sorgt dafür, das ich so gut wie nie hinfalle. Das Zusammenspiel von Muskeln wird immer klarer. Durch das Treffen auf Blockaden werden diese nach und nach aufgelöst.

Achtsamkeit:

 

Ich nehme meine Umwelt immer bewusster wahr und reagiere entsprechend. Meine Aufmerksamkeit ist im Hier und Jetzt.

Timing:
 

Meine Bewegungen lernen nach und nach, sich im richtigen Moment vom anderen zu lösen.


Wenn ich mir gelegentlich auf YouTube die Videos der EWTO anschaue, vor allem die mit Großmeister Kernspecht, bin ich immer wieder von der Effektivität und der Leichtigkeit des Seins im WingTsun beeindruckt.

Heute dürfen wir auch zunehmend über unseren Tellerrand hinausschauen, um zu sehen, was noch alles auf uns zukommt. Zugegeben, manchmal denke ich mir schon: „Das klappt bei mir nie!“ Doch wie die Erfahrung mich gelehrt hat: Alles ist möglich auf meine eigene Weise. Nicht andere kopieren, sondern mich selbst zu entwickeln, ist eine der elementarsten Eigenschaften im WingTsun.


Text: Claus Wurm (3. HG)
Fotos: © Ralf Gosch - Fotolia.com/hm/Steinhofer