Editorial

Muss Denken grundsätzlich und auch bei Meistern beim Kämpfen stören?

Ich bin zwar immer noch nicht bei Facebook – wenn es dort Seiten von mir geben sollte, handelt es sich um Betrüger –, aber ich bin ein Zwitscherer, d.h. ich twitter mit großer Begeisterung und sondere Aphorismen über das WT ab.

Inzwischen habe ich schon weit über 1.000 Sprüche losgelassen, von denen ich nur die KERNaussagen stehen lasse. Den Rest lösche ich zwischendurch immer wieder. Wer meine Zwitscherei nur auf der WingTsunWelt Online-Seite liest, kann täglich nur vier sehen. Aber wer sich bei Twitter anmeldet, was nicht so schwer ist, denn ich habe das auch geschafft, kann zurzeit über 470 lesen.

Bei Twitter kann man nicht nur mir Fragen stellen und mir beim Streuselkuchenessen zuschauen, man kann auch – wie ich es tue – längst verstorben gewähnten historischen Gestalten wie Yim Wing Tsun und der fleischgewordenen Begründerin (Founder) Ng Mui begegnen. Die inzwischen Englisch sprechende Klosterfrau fragte in die Twitter-Runde:

„Do you think in a dangerous situation it is best to transform from a human to an animal to do the job without being disturbed by thinking?“
(Meint Ihr, dass es in einer gefährlichen Situation besser ist, sich von einem menschlichen Wesen in ein Tier zu verwandeln, um das zu tun, was nötig ist, so dass man nicht durchs Denken gestört wird?)

Damit trat sie eine Diskussion los, auf die dann die verschiedensten Antworten kamen. Z.B. von ihrer Meisterschülerin, Yim Ving Tsun, die modernen amerikanischen Kampfkunst-Psychologen vielleicht mehr traut als dem Chan-Buddhismus, den ihr Ng Mui vor 250 Jahren nahezubringen versucht hatte. Yim Ving Tsun antwortete in perfektem Englisch:

Yes! Animals do not hinder their reactions with unnecessary internal dialogues. Only humans are so intelligent. Or so stupid?“
(Ja! Tiere behindern ihre Reaktionen nicht mit unnötigen innerlichen Dialogen. Nur Menschen sind so intelligent. Oder so dumm?)

Und ich, was meine ich? Wie soll ich wissen, was ich denke, bevor ich es formuliert habe. Zum Glück habe ich nun einen Mentor, den ich fragen kann, den Philosophen, Psychologen und Sportwissenschaftler mit Schwerpunkt „Kampfkunst“, dessen Buch „Psycho-Training für WingTsun, Taiji und Budo-Sport“ schon nächsten Monat in unserem Verlag erscheint: Prof. Dr. phil. Horst Tiwald.
 

Hallo Herr Tiwald,

meine Erfahrung und mein eigener Weg waren rückblickend so, dass ich das tat, was Sie wohl als „Zerlegen von Körper und Geist“ sehen würden.
Ich brachte Jahrzehnte damit zu, mich von dem „störenden Denken während des Tuns“ zu befreien, bis ich instinktiv mit „Automatismen“ kämpfen konnte.
Das ersparte mir auch „Wartezeiten vor willkürlichen Entscheidungen“.
Erst nach mehr als 45 Jahren war ich in der Lage, „während“ des Kämpfens zu denken und Optionen wahrzunehmen, denn irgendwie schien ich viel mehr Zeit zu haben.

Sie würden im Sinne einer „komplementären Einheit von Denken und Tun“ wohl argumentieren, dass ein „zunächst Trennen von Körper und Geist“ (wobei Sie vielleicht gar nicht „Geist“ sagen würden) und „dann wieder Zusammensetzen“, von etwas, das von vornherein als Einheit zusammengehört, nicht der optimale Weg ist, weil es das Tun nur im Hinterher um das Denken erweitert.

Sehe ich das einigermaßen richtig?


Hallo Herr Kernspecht,

Sie haben mich richtig verstanden!

Beim Erlernen des Bedienens von Maschinen (bei der beamteten Sachbearbeitung von Akten und bei Sportarten in standardisierten Situationen) kann man das Denken allerdings an der Garderobe abgeben.
Ein solches Training bringt dann zwar etwas für die Berufsarbeit oder die entsprechende Sportart, aber nichts fürs Leben (bzw. für sich selbst!), das letztlich eben nicht standardisiert ist.

Wer für das Leben oder für Sportarten in variablen Situationen lernen möchte, der tut gut daran, seinen „Geist“ nicht an der Garderobe abzugeben, sondern ins Leben mitzunehmen.
Hier zählt dann nicht „Vormachen und Nachmachen“, sondern „Auch-Machen“ (Jacoby) in der unmittelbaren Konfrontation mit dem tatsächlichen Problem.
Hier ist dann eine Überforderung schädlich!
Man muss hier den Schüler bei seinen Fähigkeiten abholen und auf die in ihm bereits vorhandene (ererbte) Kompetenz des Bewegens aufbauen.

Dieser Weg ist „scheinbar“ am Anfang langsamer, weil er ja auf das Andressieren eines technischen Blendwerkes verzichtet, welches ein Können (im Ernstfall, im Leben) nur vortäuscht.

Die Chinesen sind, entsprechend ihrer alten Kultur, „Weltmeister im Vortäuschen“ und siegen oft nur deswegen, weil der Gegner die Täuschung als bare Münze nimmt und – manipuliert – auf sie hereinfällt.
Mit technischem Blendwerk rühren sie bereits im Vorwege in der Distanz mit Hand und Fuß die Luft, um zu beeindrucken und Kompetenz vorzutäuschen.

So gesehen ist dies hinsichtlich des aktuellen Lebens aber auch eine Erfolgsstrategie, da man ja im „Ernstfall“ (in einer alten Kultur) mit großer Wahrscheinlichkeit auf einen manipulierten Dummen trifft.

In diesem Falle ist durch die erfolgreiche Manipulation (die bereits in der Kindererziehung, in der Schule und in den Sportvereinen beginnt) die Kultur selbst zur standardisierten Situation geworden.
Der Dumme (der auf diese Weise bereits in seiner Kindheit seinen Geist an der Garderobe abgegeben hat) ist dann – statistisch gesehen – „normal“.

Diesen rapiden Alterungsprozess einer Kultur kann man heute in den USA mit bloßem Auge verfolgen.
Wäre das nicht bereits im alten China ebenfalls so gewesen, hätte es als erfolglosen Protest keinen Lao Tse gegeben und es wäre auch kein Zen entstanden.

Liebe Grüße
Horst Tiwald