Editorial

Lau Chung Lek oder Warum man (in der 3. Ebene*) seine Aufmerksamkeit teilen soll

Als ich im vorigen Editorial von dem stolzen Cadillac-Owner mit dem 44er Oberarm schrieb, der sich selbst beobachten konnte und dadurch seine Aggression rechtzeitig erkannte und in den Griff bekam, versprach ich heute von der Technik der sog. „geteilten Aufmerksamkeit“ zu sprechen oder davon, wie man vermeidet sich zu identifizieren und sich zu vergessen.

Meiner Erfahrung nach ist das zusammen mit unserer Beeinflussbarkeit unsere größte Schwäche, die uns daran hindert bewusst zu werden und unser eigener Meister.
Am 20.12.2003, war ich beim Boxen in der Kieler Ostseehalle: Wladimir Klitschko gegen Danell Nicholson.
Über den langweiligen „Kampf“ will ich gar nicht viel schreiben, außer, dass es mir bei dem erfolgreichen Clinchen des Gegners wieder einmal bewusst wurde, dass Boxen alleine selbstverteidigungsmäßig wenig Sinn macht, wenn es nicht durch Ringen ergänzt wird. Während ich aus den gezeigten Techniken wenig Nutzen ziehen konnte, bot die Reaktion des Publikums mir viel Gelegenheit, unsere menschliche Natur zu studieren.
Da ich nur alle zehn Jahre zu einem Massensportereignis gehe, hatte ich mir eine unverschämt teure Karte geleistet, was aber nichts daran änderte, dass meine Platznachbarn − wie in Deutschland üblich (woanders lässt man eher genitalfixierte Sprüche ab) − die gleichen meist analfixierten Zwischenrufe und Kommentare herausschrieen wie auf den preisgünstigeren Plätzen.
Ein Publikum, das so begeistert mitging, wie es sich der Veranstalter nur wünschen kann. Was kann falsch daran sein, wenn man sich so ereifert und sich selbst in die Rolle von z.B. Klitschko hineinversetzt, ihm Ratschläge zuruft oder sich mit ihm freut, als hätte man selbst zugeschlagen? Nichts oder alles, wenn man es sich als höchstes Ziel gesetzt hat, bewusster zu werden und verantwortlich für seine Taten.
Wenn immer wir uns vergessen, weil wir ganz in einer Sache aufgehen, hören wir auf, bewusst zu sein oder überhaupt zu sein? Das kann ein distanzierter Beobachter bei Sportveranstaltungen, vor der Glotze, beim Tabledance und auch bei anderen Massenpsychosen wie Lynchmorden und der demagogischen Frage: Wollt ihr den totalen Krieg? studieren. Wer als größte Schwäche des Menschen unsere Beeinflussbarkeit entdeckt hat, hat damit auch den schlimmsten Feind unseres Zieles, bewusster zu werden, ausgemacht.
Wenn immer wir uns dabei ertappen, und das kann eigentlich nur jemand nach vielen Jahren harter Arbeit an sich, dass wir uns bei einem Argument in Eifer reden, andere Meinungen nicht gelten lassen, uns über Bemerkungen anderer ärgern oder aggressiv werden, unsere Gedanken immer nur grüblerisch um ein Thema kreisen, dann hat eine Identifikation von uns mit einer Sache stattgefunden, so dass wir selbst zu dieser Sache geworden sind und als Individuum zu existieren aufgehört haben.
So ist es eine wichtige Übung der 3. Ebene, seine Aufmerksamkeit zu teilen, in der Weise, dass wir einen Scheinwerfer auf die Sache richten, aber einen zweiten auf uns selbst.
Keinen Augenblick lang dürfen wir uns vergessen, egal wie spannend die Sache, um die es geht, sein mag. Während man im äußeren Leben „bei der Sache sein soll“, ist es im Sinne der dritten Ebene kontraproduktiv, „sich völlig auf eine Sache zu konzentrieren.“

Dass jemand, der distanziert die Dinge um ihn herum und zugleich sich selbst sieht, auf seine Umwelt einen eher blutleeren und temperamentlosen Eindruck macht und wenige begeistern kann, weil er ja selbst eben nicht begeistert ist, sondern absichtlich Abstand hält, ist ein Nachteil, der sich aber nur in der 1. und 2. Ebene auswirkt. Auf dem Weg zu (mehr) Bewusstsein und zur Möglichkeit, nicht nur auf Ereignisse und Stimmungen reflexartig und mechanisch zu reagieren, sondern (gelegentlich) selbst zu entscheiden, ist es eine unerlässliche Voraussetzung.
Beim Chi-Sao oder gar beim Kampf (oder beim Motorradfahren ­ meine wiederentdeckte Leidenschaft) darf man seine Aufmerksamkeit aber NICHT teilen*, das könnte lebensgefährlich werden.
Während wir in der 3. Ebene von Identifikation, von sich Vergessen oder in einer Sache ganz Aufgehen sprechen, entspricht dies in der 2. Ebene einem sich zu weit aus dem Fenster lehnen, sich zur Zielscheibe von Kritik machen, alles auf eine Karte Setzen, und in der ersten, der körperlichen Ebene der Gewichtsverlagerung etwa nach vorne, dem sich in den Schlag hineinlegen. Das taoistische Wu Wei spricht vom absichtslosen Handeln, sozusagen „sine ira et studio“. Genau darum geht es. Und nicht umsonst ermahnt uns das WingTsun-Motto „Lau Chung Lek“, dass wir (wörtlich übersetzt) „unsere Center-Force zurückhalten“, also nicht alles hineinlegen sollen, um nicht identifiziert oder „verhaftet“ zu sein.
Statt dessen gilt es, die Aufmerksamkeit zu teilen, um unser Gleichgewicht, das körperliche und das psychische im Sinne des konfuzianischen „Maß und Mitte“ zu bewahren.
Man kann nicht hypnotisiert werden, wenn man seine Aufmerksamkeit geteilt hat bzw. sich selbst beobachtet. In hypnoseartigen Semi-Schlaf zu geraten setzt eine Verengung der Aufmerksamkeit voraus. Nicht ohne Grund suggeriert der Hypnotiseur:
„Sie hören jetzt nur meine Stimme und fühlen wie Sie immer schläfriger werden.“ Allerdings wird für viele die Frage der Anwendbarkeit aufkommen. Wie kann ich meinen Beruf bewältigen, wenn ich mich nicht „voll reinhänge“? Was wird meine Frau/Freundin sagen, wenn ich mein „Temperament“ zügele? Wie reagiert mein Umfeld, wie meine Freunde auf mein neues „Ich“?
Zweifellos kommt jemand lebendiger und dynamischer rüber, der selbst begeistert und leidenschaftlich ist, jemand, der sich ereifert, über andere lästert, schnelle und einseitige (Vor-)Urteile fällt und vor allem Negatives ablässt und über andere klatscht. Kurz, jemand der selbst von den Dingen hypnotisiert ist.
Aber in der sog. 3. Ebene lernt man auch sich von dem Eindruck, den andere von einem haben mögen, freizumachen. Wer sich das aufgrund seiner Position in der Welt nicht leisten kann oder will, der darf sich nur INNERLICH ändern, aber nicht ÄUSSERLICH. Der „muss“ mit den Kollegen um die Wette lästern und so tun, als ob ihn der Firmenklatsch und die letzten Fußballergebnisse interessieren, der „muss“ über Machowitze mitlachen oder selbst welche reißen. Natürlich „muss“ er nicht wirklich, sondern hat sich nur entschlossen, den Weg des Karma-Yoga (siehe mein entsprechendes Editorial) zu gehen, um seine (Lebens-)Rolle zu spielen, die das Leben (im Falle, dass er eine Art Prince Charles ist) oder er sich selbst auferlegt hat.
Wenn so ein Mensch die Rolle eines Führers auf sich genommen hat, dann muss er sich „künstlich“ über die Fehler eines Untergebenen „aufregen“ und den Aufgebrachten und Wütenden mimen (spielen), da der andere dieses Verhalten von ihm erwartet, in einer Beziehung muss er vielleicht sogar Eifersucht darstellen, damit ihm (falschverstandene) Liebe geglaubt wird (wobei Eifersucht und objektive Liebe einander ausschließen).
Natürlich spielen wir im Leben alle eine Rolle oder sogar mehrere. Aber eine Rolle über viele Jahre BEWUSST zu spielen und sie GUT zu spielen erfordert einen Grad an Bewusstheit, der aufgrund fehlender Energie nur von sehr wenigen erreicht werden kann.

 

Keith R. Kernspecht

P.S.: Gelegentlich erhalte ich Briefe von Lesern, die zwar betonen, dass ihnen meine Editorials gefallen, sich aber ärgern, dass ich so tue, als ob es solche Inhalte nur in der 3. Ebene des WT gäbe. Falls ich diesen Eindruck erweckt haben sollte, so lag das nicht in meiner Absicht, WT hat solche Gedanken nicht für sich gepachtet, jeder, der dafür eine Ader, eine sog. „magnetisches Center“ hat, wird über solche Themen nachdenken. Wenn ich sie als der 3. Ebene des WTs zugehörig bezeichnete, dann nicht, um einen Alleinvertretungsanspruch zu stellen, sondern um zu verdeutlichen, in welchem Stadium des WT-Lernens derartiges Denken seinen Platz hat. Es gehört nicht in die 1. und körperliche Ebene und auch nicht in die 2., auf der man damit beschäftigt ist, sich in der äußeren Welt zu behaupten.
Manche fragen mich auch, ob es nicht möglich ist, alle drei Ebenen, mit sozusagen WT-typischer dreifacher Gleichzeitigkeit in Angriff zu nehmen. Vielleicht denkt Ihr mal darüber nach und teilt mir Eure Ansicht dazu gelegentlich mal mit? Stichwort: „Alle drei Ebenen gleichzeitig“.

Mailwechsel bzgl. des ursprünglichen Titel des Editorials „Hau weg die Scheiße oder Wu Wei?"

Mail von Achim Neander am 1.03.04:

Hallo Redaktions-Team,

bitte für mich keine Fäkal-Ausdrücke in den Berichten!! Lässt sich bestimmt auch anders ausdrücken!

Ansonsten alles prima und weiter so!

Freundliche Grüße

Achim Neander

FfH Institut für Markt- und Wirtschaftsforschung GmbH

Mail von Großmeister Kernspecht am 1.03.04:

REINGEFALLEN!

Lieber Achim,

natürlich lässt sich es sich auch anders ausdrücken, aber nicht, wenn man (wie unsere Boxveranstaltungsbesucher) identifiziert ist und seine Aufmerksamkeit nicht teilen kann. Just darum ging es mir doch in meinem Editorial!

Witzigerweise bist nun auch du identifiziert und gebannt von dem Fäkal-Ausdruck, der doch vor eben dieser Identifizierung warnen sollte!

Und wenn man warnen will, dann muss man gelegentlich laut werden und – wie in diesem Falle – provozieren und hypnotisieren, bis der Leser den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. (Auch eine Metapher für identifiziert sein ...)

Liebe Grüße

Dein
Keith R. Kernspecht

P.S.: „Hau weg die Scheiße“ ein typisch norddeutscher Zwischenruf und der Kontrast zu Wu Wei. Bevor wir diese Überschrift wählten, haben wir lange darüber nachgedacht, denn einige in der Redaktion warnten mich davor, dass der Ausdruck zu stark sei. Ich aber bestand darauf, da ich mit diesem typischen Ausdruck auf unseren tranceartigen Zustand hinweisen wollte.

Zum besseren Verständnis hier noch mal der Text, auf den das GANZ BEWUSST gewählte Fäkalienwort abstellt:

„Da ich nur alle zehn Jahre zu einem Massensportereignis gehe, hatte ich mir eine unverschämt teure Karte geleistet, was aber nichts daran änderte, dass meine Platznachbarn – wie in Deutschland üblich (woanders lässt man eher genitalfixierte Sprüche ab) – die gleichen meist ANALFIXIERTEN Zwischenrufe und Kommentare herausschrieen wie auf den preisgünstigeren Plätzen. Ein Publikum, das so begeistert mitging, wie es sich der Veranstalter nur wünschen kann. Was kann falsch daran sein, wenn man sich so ereifert und sich selbst in die Rolle von z.B. Klitschko hineinversetzt, ihm Ratschläge zuruft oder sich mit ihm freut, als hätte man selbst zugeschlagen? Nichts oder alles, wenn man es sich als höchstes Ziel gesetzt hat, bewusster zu werden und verantwortlich für seine Taten.

Wenn immer wir uns vergessen, weil wir ganz in einer Sache aufgehen, hören wir auf, bewusst zu sein oder überhaupt zu „sein“. Das kann ein distanzierter Beobachter bei Sportveranstaltungen, vor der Glotze, beim Tabledance und auch bei anderen Massenpsychosen wie Lynchmorden und der demagogischen Frage: Wollt ihr den totalen Krieg? studieren.“

Mail von Großmeister Kernspecht am 2.03.04:

Lieber Achim,

ich wachte heute morgen mit dem Gefühl auf, dass ich den Titel – trotz allem – ändern sollte. Denn was nützt es, wenn ich recht habe, aber viele nicht weiterlesen? Oder wenn Eltern mal sehen wollen, was für einem Verband ihr Sprössling angehört und dann auf „Scheiße“ stoßen? Kurz, der Titel wird geändert, denn WT ist flexibel und ich schon lange. Und diese Einsicht verdanke ich Dir! Hättest Du was dagegen, wenn ich unser beider Briefwechsel ans Ende des Berichtes setze? Wenn Du davon nicht so begeistert bist, dann ohne Deine Namensnennung?

Alles Liebe

Dein Sigung (?)

Keith R. Kernspecht

Mail von Achim Neander am 2.03.04:

Hallo Dai-Sifu,

vielen Dank für Deine persönliche Rückmeldung. Gerade dieses freundliche und natürliche Verhalten, wie diese Rückantwort, hebt die EWTO m.E. von anderen Verbänden sehr angenehm ab.

Aber zum Anlass: Ja, ich war in der Tat durch die Worte hypnotisiert und in meinem ästhetischen Empfinden (soweit man sich ein solches in der heutigen Zeit noch aneignen kann) beleidigt, und habe dann in einer ersten Reaktion in die Tasten gehauen. Es stößt halt einfach ab und wirkt nicht seriös, insbesondere wenn man die anderen hochwertigen und einzigartigen Berichte im Hinterkopf hat. Beim nochmaligen Hinterdenken und Hinterfragen wird die Intention dann aber deutlich und passt in den Zusammenhang (wenn der Leser denn aber überhaupt weiterliest ;-).

Lieber Dai Sifu, ich wünsche Dir und dem EWTO-Team noch viele Jahre erfolgreichen Wirkens und alles Gute für die Zukunft!

Ein, wegen in letzter Zeit unregelmäßigem Trainingsbesuchs mit etwas schlechtem Gewissen, grüßender WT-Fan

Freundliche Grüße

Achim Neander

FfH Institut für Markt- und Wirtschaftsforschung GmbH

Mail von Großmeister Kernspecht am 2.03.04:

Lieber Achim,

Dank Dir für den anregenden Mailwechsel! Mein ungutes („mulmiges") in-tuitives Gefühl beim Aufwachen ist eine Art Indiz, dass es doch so etwas wie das „Un-" oder „Unterbewusste" zu geben scheint, was implizieren würde, dass wir ansonsten bewusst seien, was ja wohl eher nicht zutrifft. Grins ...

Dein Si-Gung

Keith R. Kernspecht

Mail von Achim Neander am 2.03.04:

Hallo Si-Gung (ups!),

na klar – für die EWTO stehe ich auch mit meinem Namen gerne ein. Auf zukünftig dennoch wieder gute Gefühle beim Aufwachen ;-)

und freundlichen Grüßen aus Berlin

Achim Neander

FfH Institut für Markt- und Wirtschaftsforschung GmbH