Editorial

Die optische Täuschung: Warum sieht das moderne WingTsun der EWTO anders aus?

In seinem Gasteditorial geht Dai-Sifu Oliver König auf die häufig gestellte Frage ein, ob wir nun etwas anderes machen als „das traditionelle WingTsun“ oder gar, ob wir in der EWTO überhaupt noch WingTsun machen. Auch, ob denn das, was wir machen, überhaupt wirksam funktionieren kann.
 

Diese Fragen werden meistens von Außenstehenden gestellt oder gar als Vorwurf erhoben, z.B. in Foren oder in Kommentaren zu Videos. Aber auch Schüler, die einige Jahre nicht da waren, stellen fest, dass in der Herangehensweise der EWTO grundlegende Wandlungen stattgefunden haben.
 

Eine Technik oder ein Prozess

Die EWTO vertrat zu allen Zeiten den Grundsatz, dass Leben stets Veränderung ist. Aus diesem Grund ist Weiterentwicklung unumstößlich wichtig, um Stagnation und Erstarrung entgegenzuwirken. In den unteren Programmen neigt man dazu, auf die Techniken zu schauen und diese in Bildern im Kopf zu fixieren. So sieht man z.B. einen BongSao als Technik, die in einem 135°-Winkel abfotografiert werden kann. Der Anfänger benötigt solche Bilder, um sich ein Gedankengerüst aufzubauen. Er erlernt Grundtechniken, die ihm ein rudimentäres Bild vermitteln, welches stark vereinfacht ist, und an dem er sich ausrichten kann.

Im Gegensatz dazu betrachtet der Fortgeschrittene nicht die einzelne Technik, sondern den Ablauf und seine Funktion. Der BongSao z.B. ist für den Fortgeschrittenen ein Arm, der durch den Druck des Gegners verformt wird und ihm taktil vermittelt, wie er mit dem Körper ausweichen muss, um sich dann zu lösen und den Arm zum Gegenangriff zu verwandeln. Dieser Gesamtprozess lässt sich nicht in einem Bild festhalten (eine Technik), sondern höchstens in einem Film. Dabei ändert sich der Winkel des Armes ständig. Er rastet nicht in einem bestimmten Winkel ein, sonst würde ja ein Block entstehen und die gegnerische Kraft nicht abgeleitet werden.

Wer also kritisiert, dass diese oder jene Position im WingTsun nicht richtig ist, der ist noch im Anfängerstadium stecken geblieben oder betreibt das 80er-Jahre-WingTsun der EWTO.
 

Ausrichtung nach WingTsun-Prinzipien

Es sind also nicht die einzelnen Techniken, die WingTsun charakterisieren, sondern die übergeordneten Prinzipien:

  1. Was kommt, an dem bleibe dran!
  2. Was zurückgeht, das begleite nach Hause!
  3. Ist der Weg frei bzw. hat dein Arm keine Fühlung (mehr), stoß‘ vor!

 

Wenn es wie WingTsun aussieht, ist es keines!

Da die Bewegungen nach den obigen Prinzipien immer der jeweiligen Situation angepasst werden, können sie nicht immer gleich aussehen. Der Gegner greift in verschiedenen Winkeln an, die Druckrichtung ist verschieden, die Angriffshöhe ist verschieden, der Angriff kann geradlinig oder kurvig sein etc.

Wer also vorgefertigte Techniken einsetzt, arbeitet schon einmal grundlegend nicht nach WingTsun-Prinzipien, denn er muss das, was nicht passt ‚passend machen‘.

Hier ein Beispiel: Wenn ich einen Bong unbedingt mit einem

 
 
Abbildung: Veraltetes Modell: Kein Witz, die BongSao-Schablone diente dazu, den 135°-Winkel des BongSao beim Schüler zu korrigieren. Aus heutiger Sicht ist das kontraproduktiv, wenn man bei der Abwehr weich nachgeben will.

135°-Winkel ausführen will und der Gegner gegen meinen Bong drückt, dann kann ich das natürlich mit Kraft kompensieren. Anstatt die Kraft abzuleiten und mit dem Ziel auszuweichen, baue ich dann Druck auf, um den Winkel zu halten – wer ein kraftbetontes Wing Tsun (nicht das WingTsun der EWTO!) betreiben will, kann das gern machen, so wie das viele andere Wing-Tsun-Stile (Wing Chun, Ving Tsun usw.) machen, aber man benötigt so mehr Kraft als der Gegner, um die Technik „funktionierend zu machen“.

Ich demonstriere das gern auf Lehrgängen, da ich aufgrund meines Körperbaues und der Körperkraft und Schnelligkeit diese Vorgehensweise gegenüber den meisten meiner Schüler anwenden kann: Ich haue einen „steifen Bong“ gegen den Angriff und überrenne den Schüler mit Kettenfauststößen. Anschließend bitte ich einen Schüler, der eindeutig körperlich schwächer ist, das gegen mich zu machen. Der Schüler fliegt dann entweder durch den steifen Bong durch die Gegend oder der Bong kollabiert und er wird getroffen.

Da in einer reellen Auseinandersetzung die Chance relativ gering ist, von einem kleinen, schmächtigeren Gegner angegriffen zu werden, eignet sich diese Vorgangsweise auch schlecht zur Selbstverteidigung.

Die meisten Mitbewerber, die so arbeiten, zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Lehrer überdurchschnittlich kräftig sind und der Unterricht ein Krafttraining betont.

 

WingTsun entwickelt sich ständig weiter

Ein Grund, warum das WingTsun der EWTO heute so anders aussieht als in den 1980er Jahren, ist die Anpassung an die reelle Selbstverteidigungssituation. GM Kernspecht hat in seinen Studien festgestellt, dass die meisten Auseinandersetzungen nicht wie in einem sportlichen Wettbewerb aus der Distanz starten, sondern in extrem kurzer Distanz beginnen. Dies und der Fakt, dass zu über 90 % kurvige Angriffe (Haken, Schwinger) eingesetzt werden, führte dazu, dass wir in der EWTO unsere Trainingsmethodik dahingehend angepasst haben.

Wer versucht, ChiSao in kurzer Distanz mit und gegen kurvige Angriffe durchzuführen, wird feststellen, dass es unumgänglich wird, den Rumpf mitzubewegen, der Stand muss verändert werden etc. – Nun sieht WingTsun anders aus, aber die gleichen Prinzipien kommen zur Anwendung!


Zwei Konzepte: geradlinig und rund

Oft wird übersehen, dass auch im traditionellen WingTsun yin-yang-mäßig zwei Konzepte enthalten sind: das geradlinige WingTsun-Konzept (SiuNimTau- und ChamKiu-Form) und das runde WingTsun-Konzept (BiuDjie- und Doppelmesser-Form). Leider wurde früher das erste Konzept bis zum Exzess geübt und das zweite Konzept vernachlässigt. Aufgrund der traditionellen Unterrichtsreihenfolge wurde jahrelang mit geraden Angriffen und steifem Rumpf trainiert. Als dann die BiuDjie-Form an die Reihe kam, war der Schüler aufgrund der Konditionierung nicht mehr in der Lage, den Rumpf flexibel zu verformen und die Idee der kurvigen Angriffe zu verinnerlichen.

Das gerade und das kurvige WingTsun-Konzept kann man wie zwei verschiedene Werkzeuge betrachten, die man je nach Problem einsetzen kann. Beide haben ihre Daseinsberechtigung und beide sind in den modernen Programmen der EWTO von Anfang an enthalten. Der Schüler muss nicht warten, bis er die BiuDjie- oder die Doppelmesserform lernt, sondern führt die Bewegungsabläufe aus, die er zur Problemlösung im jeweiligen Programm benötigt.

 

Warum ein geradliniger Angriff nicht automatisch besser ist als ein kurviger

Viele Wing-Tsun-Anhänger glauben, dass ein gerader Angriff prinzipiell besser ist als ein kurviger Angriff. Dies wird meist damit begründet, dass der Weg eines geraden Angriffs kürzer und damit schneller ist als der eines kurvigen. Dabei wird aber nicht berücksichtigt, dass dies auf die jeweilige Situation ankommt.

  • Ist der Weg für einen geradlinigen Angriff versperrt, dann ist der kurvige Angriff meist die beste Problemlösung.
  • Stehe ich seitlich vom Gegner, so ist ein geradliniger Angriff meist auch nicht optimal. Der Gegner muss nur die Schulter hochziehen und den Kopf etwas einziehen, dann trifft der geradlinige Angriff nicht mehr. Ein kurviger Angriff landet aber fast immer sicher im Ziel.
  • Es gibt Fälle, wo ein kurviger Angriff schneller ist als ein geradliniger Angriff. Das wird in der Wissenschaft Brachistochrone genannt. Der kürzere Weg muss also nicht der schnellere Weg sein!
  • Jeder kann einmal ausprobieren (am besten mit Schutzausrüstung), ob er sich mit geradlinigen Angriffen (Kettenfauststößen) gegen einen Gegner, der rund schlägt, durchsetzen kann. Der kurvig Angreifende bewegt meist den Kopf, stellt also kein fixes Ziel dar und gewinnt durch Vornehmen der Schulter an Reichweite. Manchmal geht der kurvig Angreifende auch zurück, wenn er schlägt. Auf diese Weise haben schon manche Wing-Tsun-Leute Probleme bekommen!

 

Das Einhalten der Zentrallinie

Noch ein Mythos, der meist von Anfängern missverstanden wird. Viele glauben, dass sie auf der Zentrallinie stoßen müssen. Das wurde ihnen von ihren Lehrern über Generationen eingetrichtert und dies wird mit religiösem Eifer praktiziert. Zugegeben, es gibt manchmal Situationen, wo es sich empfiehlt, mit einem engen Fauststoß über die Zentrallinie zu stoßen.

Meistens ist die Zentrallinie aber besetzt und man schlägt dann gegen die Deckung des Gegners. Viele Abwehren aus dem traditionellen WingTsun funktionieren überhaupt nur, weil der Gegner sich an die Regel hält, den Ellbogen eng zu halten und auf der Zentrallinie zu stoßen.

Die Zentrallinie hat natürlich ihren Wert. Sie zeigt aber nicht auf, auf welchem Weg man sklavisch zustoßen soll, sondern sie zeigt auf, wie man sich „gegenüber der Dochtlinie zum Gegner ausrichten“ muss. Wer diesen kleinen Unterschied verstanden hat, ist auf dem Weg zur WingTsun-Meisterschaft schon ein großes Stück weitergekommen.


Wer mehr über die Funktionsweise des modernen EWTO-WingTsun erfahren will, dem empfehle ich das neue Buch meines SiFus, GM Prof. Keith R. Kernspecht, „Die Essenz des WingTsun – Jenseits von Techniken und Anwendungsdenken“.

 

Text und Abbildung: DaiSifu Dr. Oliver König